September ist Hirschjagdzeit. Und auch in diesem Jahr bin ich mit dabei. Als Jungjägerin begleite ich so oft wie möglich erfahrene Jäger auf Morgen- oder Abendansitzen. Dieses stille Im-Wald-Sitzen entspricht mir sehr. Es hat fast schon etwas Meditatives. Erst spielen die Gedanken noch verrückt, doch dann beruhigen sie sich allmählich und irgendwann sitzt man einfach nur noch da – und schaut und lauscht. Es summt, es knackt, es raschelt irgendwo im Unterholz. In der Ferne schreit ein Nachtkäuzchen. Dann plötzlich fängt die Fantasie an, einen ein Schnippchen zu schlagen. Dort – war das nicht der Kopf eines Hirschs? Ah, nein, leider nur ein Baumstrunk. Immer wieder scheint der Wald ein Eigenleben zu entwickeln. Zu meiner Beruhigung stelle ich fest, dass das auch erfahrenen Jägern manchmal so geht. Dann erfolgt sekundenschnell der Griff zum Gewehr. Der Blick durchs Zielfernrohr. Gefolgt von einem lauten, enttäuschten Ausschnaufen und dem
Senken der Waffe. Dann weiss ich
jeweils: Auch der erfahrene Jäger neben mir sieht mit der Zeit Gespenster. Vermutlich wird der Wunsch, ein Tier zu erblicken, so gross, dass das Gehirn dieses einfach selbst produziert.
Ein anderes seltsames Phänomen ist, dass ich mit meiner Aura anscheinend sämtliche Tiere vertreibe. Ich war schon dreimal auf der Hirsch-, zweimal auf der Gams-, zweimal auf der Sau- und einmal auf der Rehjagd mit dabei. Kein einziges Mal habe ich auch nur im Entferntesten ein Tier gesehen. Anblick? Fehlanzeige. Einzig bei den zwei Dachsansitzen waren wir beide Male erfolgreich. Sonst: weit und breit kein Tier. Losung ja, Trittsiegel ja, aber sonst keine Spur. Bei der Hirschjagd habe ich mich immerhin akustisch gesteigert. Bei der ersten Drückjagd habe ich weder etwas gesehen, noch gehört. Beim zweiten Hirschansitz hat unweit von uns eine Hirschkuh gebellt und beim dritten Mal – frühmorgens im wildromantischen Justistal – haben mehrere Hirsche ganz in unserer Nähe lautstark geröhrt. Zumindest weiss ich jetzt, dass die Hirsche wirklich in den Wäldern herumwandern. Denn gesehen habe ich bis heute keinen. Ich weiss noch, als ich vor vielen Jahren in der Abenddämmerung in Südschweden zum ersten Mal eine Hirschkuh in freier Wildbahn gesehen habe. Ein magischer Augenblick, den ich nie mehr vergessen werde. Friedlich stand sie auf einer Lichtung und kaute genüsslich Weideröschen. So gesehen kann ich zumindest die Vorfreude auf den ersten Hirschanblick so richtig lange geniessen.