Wie Sie vielleicht wissen, bin ich Profimusiker, genauer gesagt Profigitarrist und noch genauer gesagt Profi-E-Gitarrist.
Eigentlich interessiert mich nichts so sehr wie E-Gitarren und die ganze Musik, welche man mit diesen Dingern machen kann. Von allen fünf wichtigen E-Gitarren-Modellen besitze ich mehrere Exemplare, aber von einem Modell, der Gibson ES-335, noch kein einziges! Und genau das begann mich immer mehr zu belasten, obwohl meine Freundin schon lange findet, ich hätte einen Flick weg, da ich tatsächlich schon siebzehn Gitarren besässe und jetzt noch eine achtzehnte kaufen wolle. Ich versuchte mich zu beherrschen, in Verzicht zu üben. Ich redete mir ein, dass ich auch ohne eine ES-335 ein glückliches Leben führen könne. Zwei Tage und Nächte ging das gut, doch in der dritten Nacht begann mir die Gitarre im Schlaf zu erscheinen. Im Traum verliebte ich mich unsterblich in ihren Sound und ihren Body, ja, ich machte Liebe mit ihr. Tagsüber fühlte ich mich leer und bedrückt, litt unter Appetitlosigkeit und einem Gefühl der totalen Sinnlosigkeit. Das entging auch meiner Freundin nicht und schlagartig realisierte auch sie, was mir im Leben fehlte: eine Gibson ES-335! Und mir war klar: Eine durchschnittliche ES-335 reichte nicht, es musste das perfekte Instrument sein. Und um ein solches Spitzeninstrument einer Serie aufzustöbern, gibt es nur einen Weg: Sich ins Auto setzen, 600 Kilometer Autobahn unter die Räder nehmen, um zum grössten Musikladen der Welt nach Deutschland zu fahren (er hat über 10?´000 Gitarren an Lager) und aus zahlreichen Exemplaren des Modells das beste auszuwählen. Und genau dort traf ich sie nun, meine Leidensgenossen, die Gitarrenprofis aus ganz Europa. Gitarrensüchtige Menschen, die sich genau wie ich auf den Weg gemacht hatten, um ihr Trauminstrument zu ergattern. Und hier, unter all den Nerds in diesem Instrumentenmekka, war ich endlich völlig akzeptiert und verstanden! Hier konnte ich tagelang ungestört mit anderen über Saitenstärken, Resonanzräume, Holzmaserungen, Bundabstände, Sustains, Plektren, Flageoletts, Twang, Bundreinheit, Anschlagsdynamik, Pickups, Stege und Hälse reden. Doch als mir noch um drei Uhr morgens im Hotel die Gedanken rund um all die Gitarren den Schlaf raubten, wurde auch mir bewusst: Wir Musiker und Musikerinnen haben definitiv einen Flick weg.