Zum Raum, wo MIRA Zuhause ist, hat niemand Zutritt, ausser MIRA gewährt einem diesen. / Bild: Elio Stettler (ese)
Emmental: Rund 50 Geschichten wurden am 2. Kurgeschichten-Wettbewerb der «Wochen-Zeitung» eingereicht. Auf Platz drei schaffte es jene von Christian Strähl aus Niederhünigen.
Ich sitze im Kontrollraum und werfe einen Blick auf den Kontrollscreen: Luftversorgung in Ordnung, Wasserversorgung in Ordnung, Datenversorgung in Ordnung, Stromversorgung in Ordnung. «Die Organe unseres kleinen Universums funktionieren einwandfrei», stelle ich zufrieden fest. Ich lehne mich zurück in meinem Drehstuhl, drehe mich langsam um die eigene Achse und schaue dabei in die Dunkelheit vor mir nach draussen. Ich schliesse langsam die Augen und öffne sie wieder, stelle fest, dass die Dunkelheit draussen um ein Vielflaches schwärzer ist. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich werfe einen Blick auf den Rover-Screen. Langsam dreht der Rover dort seine Kreise. Ein Sturm. Es ist kaum etwas zu sehen. Nur Wüstensand, der dem Roboter in die Kamera weht. Seit Jahrzehnten dreht der Rover seine Runde. Immer die gleichen zehn Quadratkilometer, immer die gleichen Bilder. Ein Gefühl der Entmutigung durchfährt mich. Wie gerne wäre ich die Person, die nach all den Jahren wieder einen Fuss auf die Erdoberfläche setzen würde. Und doch ist es unwahrscheinlich, dass für jemanden meiner Generation dies möglich sein wird. Es wäre ein grosser Schritt für die Menschheit.
Doch MIRA hat uns Hoffnung gemacht: Am 192. Jahrestag der Flucht in die Tiefe hat sie gesagt, dass das Ende der Quarantäne naht. Die Strahlungswerte auf der Erdoberfläche würden sich stabilisieren und das Klima lasse bald wieder menschliches Leben zu. Als ich gefragt habe, wann wir wieder die Erdoberfläche betreten können, hat MIRA gesagt in 54.5 Jahren. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Die meisten der anderen 864 Bewohner haben nur gelacht. Denen scheint es nichts auszumachen. Sie haben sich mit dieser Welt hier 3486 Meter unter Meer abgefunden und geniessen das sichere, sorglose Leben hier unten. Und auch ich habe mich arrangiert. Nachts jedoch träume ich von dieser anderen Welt, die ich nur aus Screens kenne. Die Welt mit Pflanzen, Tieren, Himmel, Sternen. Ich seufze laut und stehe auf.
Ich mache mich auf den Weg zu meinem Kontrollgang. Obwohl dieser eigentlich nicht nötig ist: MIRA hat alles unter Kontrolle. «Aber ein wenig die Beine vertreten kann nicht schaden», denke ich mir. Der Kontrollraum befindet sich in der Mitte der beiden Haupttrakte: Auf der rechten Seite der Lebens-Trakt und auf der linken Seite der Versorgungs-Trakt. Ich gehe in Richtung des Versorgungs-Traktes. Ein kreisrunder Gang verbindet die als Halbkugeln organisierten Organe des Versorgungs-Traktes miteinander. Im ersten Organ, der «Lunge», werfe ich einen Blick auf die drei Mann hohen Tanks der Sauerstoffaufbereitungsmaschine. Unter lautem Dröhnen wird die Luft gereinigt und durch die Belüftungsröhren durch den ganzen Organismus gepumpt. Ich gehe durch den Gang weiter in den Bio-Trakt. Langsam wächst hier Gemüse und Getreide in verschiedensten Formen und Farben in den turmhohen Regalen vor sich hin. Ich bin gerne hier. Das Surren der Röhrenlampen, das Zischen der Sprinkleranlagen und das mechanische Surren der Ernteroboter – bei all den Geräuschen hat man fast das Gefühl, man könne den Pflanzen beim Wachsen zuhören. Im nächsten Trakt befindet sich das Wasser-Reservoir, wo das Salzwasser des Meeres unter ohrenbetäubendem Lärm zu Süsswasser aufbereitet wird. Ich passiere die transparenten Wassertanks mit tausenden Litern von sauberem Trinkwasser und gehe weitere in den Mechanik-Raum. Dort befinden sich viele technische Gerätschaften und zahlreiche 3D-Drucker, die unter leisem Summen gerade Ersatzteile oder Werkzeuge produzieren.
Im nächsten Trakt befinden sich das Herz und Hirn des Versorgungstraktes: Dieser Bereich ist zweigeteilt und besteht aus zwei abgeschlossenen Räumen. Rechts von mir ist der Datenraum, das Hirn. Hier wurden die Unterseekabel angezapft und hier ist das Zuhause von MIRA. Zu diesem Raum hat niemand Zutritt, ausser MIRA gewährt einem diesen. Links von mir ist der Energieraum, das lautlose Herz, wo die Stromversorgung durch Windturbinen und Solarmodule an der Erdoberfläche sichergestellt wird. Das letzte Organ, das ich betrete, ist komplett in rotem Licht eingetaucht. Es ist das Protein-Labor, wo das laute Zirpen der Insektenzucht zu hören ist, den einzigen tierischen Lebewesen hier unten. Vor der Vitrine mit den Heuschrecken bleibe ich stehen und schaue gedankenverloren den Insekten zu: «Wir haben Wasser, Strom, Datenversorgung, gutes Essen. Wir sind in Sicherheit, geschützt durch Tonnen von Wasser vor Strahlung und Unwetter. Wir haben hier das Paradies und doch?…» Mit einem Kopfschütteln schüttle ich den Gedanken ab und kehre wieder zurück in den Kontrollraum. Ich werfe wieder einen Blick auf den Rover-Screen. Immer noch Sturm, immer noch Wüste. Einmal, da glaubte ich für den Hauch einer Sekunde eine andere Welt, eine Welt mit Bäumen, Sträuchern und Blumen auf dem Screen zu sehen. Ich traute meinen Augen nicht. Doch nach einem kurzen Flimmern sah ich wieder die alte bekannte Ödnis. Wahrscheinlich war es nur Einbildung, und trotzdem?…
Ein lauter Alarm reisst mich aus meinen Gedanken. Für einen kurzen Moment geht das Licht aus und ich befinde mich im Dunkeln. «Was ist los MIRA?», rufe ich in den Raum. Nach und nach geht das Licht wieder an. Kommandant Elon Mayer, Oberingenieur Jean St. Germaine und Chef Biologin Alice Kerner stürzen nacheinander in die Kommandozentrale. «Die Stromversorgung ist unterbrochen. Notstromversorgung wurde aktiviert», tönt es von MIRA aus den Lautsprechern. «MIRA, alle nicht überlebensnotwendigen Funktionen sofort deaktivieren», schaltet sich St. Germaine geistesgegenwärtig ein. Sofort wird der Rover-Screen schwarz und auch einige Beleuchtungen schalten sich aus. Aus dem Lebens-Trakt sind aufgeregte Stimmen zu hören. Mayer, St. Germaine, Kerner und ich stehen im Halbkreis um den Kontrollscreen in der Mitte. «MIRA, gib uns einen Zustandsbericht. Was stimmt nicht mit der Stromversorgung?», fragt Kommandant Mayer. «Das Problem kann nicht abschliessend eruiert werden. Wahrscheinlich ist ein Ausfall von mehreren Transformatoren», antwortet MIRA unaufgeregt und kalt, wie stets. Wir werfen uns nervöse Blicke zu. Die Transformatoren befinden sich an der Erdoberfläche. «MIRA, wie lange reichen die Energiespeicher aus?», frage ich in den Raum. «Die Akku-Speicher sind zu 95 Prozent gefüllt. Voraussichtlich erreichen sie null Prozent in 31 Stunden», antwortet MIRA. Kerner und ich werfen uns einen nachdenklichen Blick zu. «Was empfiehlst du uns zu tun?», fragt Kommandant Mayer. «Auf Basis der zur Verfügung stehenden Daten empfehle ich, abzuwarten.» – «Abwarten?», rufen Kerner und ich beinahe gleichzeitig erstaunt. «Nun», seufzt Kommandant Mayer, «wenn MIRA sagt abwarten, dann warten wir ab.» Ich wende mich an Mayer: «Kommandant, ich denke, wir sollten auch andere Optionen in?…» – «Andere Optionen?», herrscht mich Mayer an. «Welche anderen Optionen? Wollen Sie tatsächlich in diese Hölle gehen und die Transformatoren reparieren?», schreit Mayer und zeigt auf den Rover-Screen. «Nein», sagt Mayer in ruhigem bestimmtem Ton, «MIRA ist unsere einzige Option. Sie hat uns bisher nie im Stich gelassen und sie wird uns auch jetzt nicht im Stich lassen.» Mit diesen Worten dreht sich Mayer um und verlässt den Kommandoraum. St. Germaine nickt langsam, als wolle er die Worte von Mayer bekräftigen und folgt ihm hinaus. Ich drehe mich um zu Kerner, die gedankenverloren nach draussen in die Dunkelheit schaut. «Wir können doch hier nicht einfach warten – nichts tun. In zwei Tagen ist es vorbei mit uns», sage ich verzweifelt. «Aber MIRA sagt?…» – «MIRA ist nur eine Maschine. Sie wird nicht in zwei Tagen tot sein», fahre ich dazwischen. Kerner schaut mich erschrocken an. «Vielleicht täuscht sie sich», flüstere ich und füge kaum hörbar hinzu: «Vielleicht täuscht sie uns?…»
Und in dem Moment, als ich diese Worte ausgesprochen habe, weiss ich mit einem Mal ganz genau, was zu tun ist. Ich stürme aus dem Kontrollraum. Nach links durch den Technik-Trakt, vorbei an Lunge, Herz und Gehirn unserer Welt. Im Mechanikraum, versteckt hinter den 3D-Druckern, das weiss ich aus meinen jahrelangen Rundgängen, gibt es eine Luke zu einer Rettungskapsel, die einem an die Erdoberfläche bringt. Ich packe einen Werkzeugkoffer, öffne die Schleuse zur Kapsel und steige hinein. Für einen kurzen Moment umgibt mich absolute Dunkelheit. Plötzlich ein lautes Klopfen an die Einstiegsluke. Ich fahre herum: «Wer ist da?», frage ich. «Lass mich rein», kommt sofort die Antwort. Ich erkenne die Stimme von Kerner. Einen kurzen Moment überlege ich: Will sie mich von meinem Vorhaben abbringen? Vertraut sie der allwissenden MIRA – oder vertraut sie mir? Wieder klopft es dreimal laut an die Luke. Einen kurzen Moment zögere ich, dann öffne ich die Luke. Kerner schaut mich an und lacht: «Ich habe diese verdammte Dunkelheit satt.» Nun lache auch ich lauthals los. «Dann auf ins Licht», sage ich und starte die Maschine. Ich kopple die Kapsel von unserer Welt ab und langsam steigen wir höher und höher. Die Dunkelheit wird weniger. Aus Schwarz wird Dunkelblau und dann Hellblau. Und plötzlich tauchen wir ein in gleissendes Licht. Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob dies der Anblick des Todes ist. Aber nach einigen Sekunden gewöhne ich mich an das Licht und schaue nach draussen: Rund um uns herum nur Wasser. «Da», ruft Kerner aufgeregt und zeigt auf einen schwarzen Streifen am Horizont, «Land!» Wir steuern das Land an. Ich erwarte Bilder, wie wir sie stets vom Rover gesehen habe. Ich erwarte Wüste, Steine, Ödnis. Doch als wir mit unserer Kapsel wenig später auf einer Sandbank vor dem Strand auflaufen und auf das schauen, was vor uns liegt, trauen wir unseren Augen nicht…