Neue Studie zeigt: Der Mangel an Hausärzten wird noch grösser

Neue Studie zeigt: Der Mangel an Hausärzten wird noch grösser
Eine verwaiste Hausarztpraxis. Dieses Szenario droht in den kommenden Jahren vermehrt Realität zu werden / Bild: Bruno Zürcher (zue)
Kanton Bern: In den nächsten Jahren wird sich der Hausarztmangel weiter verschärfen. Dies zeigt eine detaillierte Analyse. Sven Streit ist Studienleiter und Hausarzt in Konolfingen.

Herr Streit, seit gut zwei Jahren sind Sie als Hausarzt tätig. Ist es so, wie Sie sich das vorgestellt haben? 

Ja, wir erleben viel Freude und Dankbarkeit. Meine Frau Anja und ich – wir führen die Praxis gemeinsam – wie auch das ganze Team sind gut aufgenommen worden. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Anbietern wie Apotheke, Ergotherapie oder Spitex funktioniert sehr gut. 


Gabs auch etwas, was nicht
wie geplant geklappt hat?

Den Aufwand für die Umstellung von der Patientenakte auf Papier zur digitalen haben wir unterschätzt. Und dann wurde just, als wir die Hausarztpraxis eröffnet haben, die Covid-19-Pandemie aktuell. 


Covid-19 hat sicher zu einer
Mehrbelastung geführt. 

Es ist aber auch ein gutes Beispiel, um die Wichtigkeit der Hausarztpraxen aufzuzeigen. Man kann rasch entscheiden, wie man vorgehen will, im Unterschied zu einer grösseren Organisation wie einem Spital. Ich und meine Frau haben uns nach einem kurzen Gespräch entschlossen, Tests und Impfungen anzubieten. 


Haben Sie genügend Kapazität? 

Der Zulauf an neuen Patientinnen und Patienten war nach der Eröffnung 2019 sehr gross. Auch wegen der Pandemie mussten wir einen vorübergehenden Aufnahmestopp verfügen – wie andere Hausarztpraxen auch.


Die aktuelle Studie, die Sie geleitet haben, zeigt deutlich auf, dass sich die Situation noch deutlich ver-
schärfen wird. Unternimmt die
Politik zu wenig? 

Wir haben unsere Studie letzte Woche den Grossräten wie auch Regierungsrat Pierre Alain Schnegg vorgestellt. Sie zeigten sich dankbar, dass nun erstmals klare Daten vorliegen. Es ist nicht so, dass die Politik bislang nichts unternommen hat. Das Projekt Praxisassistenz, bei dem angehende Ärztinnen und Ärzte ein Praktikum in Hausarztpraxen machen können, ist dabei zentral. Das Projekt wurde 2019 erweitert und läuft noch bis 2022. Wir setzen uns dafür ein, dass der Grosse Rat das Geld für die Weiterführung spricht.  


Jährlich werden so 35 Stellen
vermittelt. Die Nachfrage wäre aber viel grösser.

Klar wäre es besser, wenn mehr Stellen vermittelt werden könnten. Zumal der Erfolg gross ist: Die Langzeitevaluation zeigte, dass 81 Prozent der ehemaligen Absolventen tatsächlich als Grundversorger tätig wurden. Und fast die Hälfte dort, wo die Praxisassistenz absolviert wurde. Ich habe aber auch Verständnis, dass der Grosse Rat nicht mehr Mittel für das Projekt sprechen kann – das Geld des Kantons ist überall knapp. 


Knapp bleiben damit auch die
jungen Hausärztinnen und -ärzte.

Bei einer Umfrage 2017 gaben 20 Prozent der Medizinstudierenden die Hausarztmedizin als definitiven Berufswunsch an und 40 Prozent sahen sie als eine Option. Es hätte also Potenzial. Der Kanton Bern hat auch dank der Uni an sich eine gute Ausgangslage. 


Alleine um den Stand von heute
halten zu können, müssten
40 Prozent der Medizinstudierenden später in einer Hausarztpraxis tätig sein. 

Der Druck ist ganz klar da. Menschen, die keinen Hausarzt finden, melden sich etwa bei den Gemeinden. Diese machen dann Druck auf den Kanton und Bund. Ich denke, es wird sich in den nächsten Jahren einiges bewegen.  

Die wichtigsten Punkte

Am 10. September wurde eine Studie publiziert, die erstmals einen detaillierten Überblick zum Mangel an Haus- und Kinderärztinnen und -ärzten im Kanton Bern bietet. 

Das sind die wichtigsten Punkte:

972 Ärzte und Ärztinnen haben im Jahr 2020 in der Grundversorgung gearbeitet (123 davon waren über 65-jährig).

Kantonsweit beträgt die Dichte an Hausärzten 0,75 Vollzeitstellen pro 1000 Einwohner. 

Bis 2025 wird im Kanton Bern die Dichte auf 0,56 Hausärzte pro 1000 Einwohner abnehmen
(Emmental von 0,81 auf 0,67 Hausärzte pro 1000 Einwohner / Bern-Mittelland: 0,72 auf 0,54). 

Rund 60 Prozent der Hausärzte und -ärztinnen verfügten eine Aufnahmestopp für neue Patienten (13 Prozent komplett, 47 Prozent teilweise). 

Alleine um die heutige Dichte an Hausärzten halten zu können, sind bis 2025 insgesamt 270 neue Hausärztinnen nötig.  

20 Prozent der heutigen Hausärzte- und ärztinnen haben ihr Diplom im Ausland erworben. 

23.09.2021 :: Bruno Zürcher (zue)