Eine Taube auf Abwegen

Eine Taube auf Abwegen
Die Taube schaut sich interessiert in einem Laden in Signau um - nach einem langen Flug. / Bild: Christina Burghagen (cbs)
Signau: Kurz nach Ostern fliegt eine Brieftaube von Frankreich aus in die falsche Richtung. Erschöpft landet sie im Emmental statt in Luxemburg. Die Geschichte einer Begegnung mit einem besonderen Vogel.

Der Tag neigt sich bereits dem Ende zu, als Bernhard und Jacqueline per Whatsapp von ihrem Dorfspaziergang grüssen: «In eurem Schaufenster hat es sich eine Taube gemütlich gemacht.» Die Stirn runzelnd gehe ich in den Laden und kann das Federvieh bald orten. Es plustert sich bequem und behaglich im seitlichen Schaufenster. Offenbar ist die Taube tags zuvor unbemerkt reingekommen, weil bei schönem Wetter die Türe offenstand. Der erste Impuls: «Raus hier! Hier ist weder eine Fussgängerzone noch der Markusplatz!» Mit einem Besen scheuche ich den Vogel bei sperrangelweitem Ausgang auf. Doch gehen – beziehungsweise fliegen – will das graue Geschöpf auf keinen Fall. Die Taube setzt sich interessiert auf den Schrank. Weil ich grad mit meiner Nichte in Deutschland chatte, sende ich ihr Fotos. Auf diesen entdeckt sie die beringten Beine des Vogels. Sie habe gestern im TV «Wer wird Millionär» geschaut, schreibt die Nichte. Da habe ein Mann von einer Taube erzählt, die ihn eines morgens auf der Bettdecke besucht habe. Nun habe er erfahren, dass Brieftauben auf Abwegen gerne einen Halt einlegten, um sich zwei, drei Tage auszuruhen. Mit dieser Information schaue ich mir die Taube, die wir «Verpeila» getauft haben, genauer an. Mit intelligentem Blick und elefantengrauem Federkleid betrachtet sie  uninteressiert die Schälchen mit Wasser und Körnermix, die wir offerieren. Sie macht den Eindruck, als wolle sie sich häuslich niederlassen. Wir haben also einen Vogel. Google erzählt vom Orientierungssinn der schnellen Flieger seit tausenden von Jahren. Mit 60 Stundenkilometern überwinden sie grosse Distanzen. Es gibt auch Kunstflug- und Hochzeitstauben. Wenn verpeilte Tiere den Heimweg verpassen, helfen Vogelfreunde den Erschöpften weiter, wie Sandra Lanz aus Affoltern als Kontaktperson für die hiesige Region. Als Kleintierzüchterin habe sie Mist an den Hosenstössen, schmunzelt die Geschäftsführerin von «Kleintiere Schweiz». Ihr Verband kümmert sich um die Haltung und Zucht von Vögeln, Tauben, Geflügel und Kaninchen. Und organisiert den «Zugeflogenendienst» für verirrte Tauben. Sandra Lanz springt oft mit ihrer Voliere als Schlummermutter ein. Weil sie grad im Büro sitzt, steht etwas später Bernhard Jegerlehner vor der Tür, Tauben-Obmann des ornithologischen Vereins Konolfingen. Ein geübter schneller Griff und «Verpeila» sitzt ruhig in den Händen auf seinem Schoss. «Es ist ein Weibchen», erklärt der Vogelkundler, «sie ist topfit und im Kropf hats noch Nahrung.» Das Kunststoffteil am Bein trägt den Chip, mit dem die Heimkehr der Brieftaube in den Schlag digital erfasst werden kann. Am andern Fuss stehen die Telefonnummer des Besitzers und die Länderkennung «LU» - Luxemburg! 125 Kilometer Luftlinie von zuhause ist die zweijährige Taubenfrau im französischen Maxéville bei Nancy nördlich der Schweiz gestartet. Doch sie fliegt die doppelte Distanz gegen den Wind in die falsche Richtung! Statt nach Luxemburg führt die Reise ins Emmental. Wettflüge werden im Sommer bei gutem Wetter mit bis zu 600 Kilometer Strecke organisiert - ein meist bewältigbarer Weg für die Tiere. Doch das Heimfindevermögen kann durch meteorologische Einflüsse gestört werden, Greifvögel attackieren die Tiere oder eine Taube ist erschöpft. Dann lässt sie sich in einem anderen Schlag, bei Hühnern oder menschlichen Behausungen nieder. Wenn sie Wasser und Futter findet und sich ausgeruht hat, setzt sie in der Regel die Heimreise fort. So fliegt auch «Verpeila» zwei Wochen später wieder auf und davon - doch bisher kam sie nicht an, berichtet ihr Besitzer Rui Friezas aus Luxemburg traurig. Sie sei schon siebenmal bei Wettflügen heimgekehrt, berichtet der Taubenzüchter aus Luxemburg über die Vermisste. Er kenne all seine 150 Tiere gut, erklärt der Gemeindeangestellte am Telefon. Vor 18 Jahren habe ihn seine Mutter zu den Brieftauben gebracht - nun seien sie seine Passion. Es schmerzt ihn, dass unser Findling trotz Erholung im Emmental bisher nicht heimgekehrt ist. «Wir wissen leider nie, weshalb sich eine Taube verfliegt oder nicht mehr zurückkommt.» Brieftauben transportieren ja längst keine Briefe mehr. Auf Französisch heissen sie «Pigeon voyageur», sind also Reisende. Vielleicht ist «Verpeila» ja gar nicht verpeilt, sehnt sich nur nach dem Meer und ihre Reise führt sie weiter gegen Süden. Guten Flug!

28.05.2025 :: Christina Burghagen (cbs), Karl Johannes Rechsteiner (kjr)