Geschichten nahe am Leben
Langnau: Elisabeth Müller wuchs in einer kinderreichen Pfarrfamilie in Langnau auf. Ihre Erlebnisse und die christlichen Ideale des Vaters vermischten sich später zum Stoff ihrer Bücher. Das Buchantiquariat Libretto rückt die Schriftstellerin wieder ins Bewusstsein und lädt zu einem Lese-abend ein.
«Soll ich euch eine Geschichte erzählen von einem lieben kleinen Mädchen? Es hiess Vreneli und hatte schon als Kind viel Lustiges und Trauriges erlebt, dass ihr gewiss gerne davon hörenmögt.» So beginnt das erste Kinderbuch von Elisabeth Müller, das zu einem Erfolg wurde. «Die Kinderlose hat die meisten Kinder», dieser Ausspruch traf auf Elisabeth Müller zu. Ihre Kinder waren ihre Bücher, und Tausende von Kindern wuchsen mit ihren Büchern auf.
Bleibende Werte
Inzwischen ist es stiller um die Dichterin geworden. Die meisten ihrer Werke sind vergriffen. Wo nach Elisabeth Müller noch immer gefragt wird, ist im Langnauer Buchantiquariat Libretto. «Die Nachfrage ist gross», sagt Jürg Mäder, der Inhaber, «vor allem ältere Menschen interessieren sich für sie, weil sie durch die Lektüre an die eigene Kindheit erinnert werden.»
Jürg Mäder findet Elisabeth Müller bis heute lesenswert. «Natürlich hat sich unser Leben verändert, aber die Geschichten vermögen weiterhin zu fesseln, weil sie nahe am Leben geschrieben sind», findet der Buchantiquar. «Die Texte zeigen die Macht des Menschen, die Welt zum Guten zu verändern, und das ist eine zeitlose Botschaft.»
Die Fabulierlust
Unglückliche Umstände führten Elisabeth Müller zur Schriftstellerei. Im Alter von 28 Jahren erkrankte sie an Tuberkulose. Von 1913 bis 1918 weilte sie im Sanatorium in Leysin (VD). Während der endlosen Liegekuren, die sie über sich ergehen lassen musste, begann sie eine Gegenwelt zu erfinden.
Der Vater war für Elisabeth Müller das grosse Vorbild. Seine hohen Ideale und Werte, das Pfarrhaus, die Nähe zu den Menschen, das unbedingte Gottvertrauen, die acht Geschwister, das und vieles mehr nahm Elisabeth Müller in ihrem Innern auf. Die Eindrücke wuchsen zu einem Schatz heran, aus dem die Schriftstellerin jetzt zu schöpfen begann.
Aus dem Nichts entstanden in ihrem Kopf Figuren, Handlungen, Szenen. Die Geschichte des Pflegekinds Vreneli, das am Schluss zu seiner richtigen Mutter findet, wuchs und wuchs, bis sie schliesslich fertig war.
Elisabeth Müller klammert in ihren Geschichten das Leid nicht aus. Ihren Personen widerfahren oft harte Schicksale. Die ernste Note bringt nicht selten den Leser zum Weinen. Andererseits bieten die Geschichten immer auch Trost. Es sind Verwandlungsgeschichten, in denen das Gute über das Böse siegt, wo Verlorenes wiedergefunden und Zerbrochenes wieder ganz wird.
Ehrungen bis heute
Für ihr Werk bekam Elisabeth Müller zahlreiche Ehrungen. Die Schiller-Stiftung zeichnete sie mehrere Male aus und die Universität Bern verlieh ihr die Ehrendoktorwürde. Langnau, das Dorf, das immer wieder in ihren Werken vorkommt, kürte die Schriftstellerin zur Ehrenbürgerin. Nach ihrem Tod liess die Gemeinde eine Inschrift am Pfarrhaus anbringen. In gotischer Schrift heisst es da: «In diesem Haus ist geboren und aufgewachsen Elisabeth Müller 1885–1977, Jugendschriftstellerin, Ehrenbürgerin von Langnau».
In jüngster Zeit, nach dem Umbau des Museums vor zwei Jahren, wurde im Regionalmuseum Chüechlihus eine kleine Gedenkstube für die Dichterin und ihren Vater eingerichtet. Hier stehen alle ihre Werke aufgereiht, hier kann man sich in ihre Biographie vertiefen.
Annäherung an Elisabeth Müller
Eine weitere Einrichtung, die auf Elisabeth Müller aufmerksam macht, ist das Buchantiquariat Libretto.
In ihrem Schaufenster hängt zurzeit eine lebensgrosse Fotografie der Dichterin.
Nächste Woche lädt der Laden zu einer Lesung ein. Die Einführung ins Werk macht der 17-jährige Samuel Sommer. Der Jugendliche durchläuft zurzeit ein Praktikum im Buchantiquariat. Auf die Frage, warum das «Libretto» Elisabeth Müller ins Rampenlicht rückt, antwortet er: «Wir versuchen aktuell zu sein. Die Wahl fiel auf sie, weil sie letztes Jahr 125 Jahre alt geworden wäre, weil sie in Langnau aufgewachsen ist, weil ihre Bücher bei uns sehr beliebt sind und weil wir fast alles von ihr haben.»
In seiner Einführung wird Samuel Sommer auf Spezielles im Leben der Autorin eingehen. Er wird den «spartanischen» Haushalt beleuchten, welche Elisabeth Müller mit ihrer Schwester in Hünibach führte, und Beispiele aufzeigen, wo Langnau und das Emmental vorkommen.
Auf seinen Nachforschungen hat der Jüngling auch die Tagebücher der Schriftstellerin in der Burgerbibliothek Bern studiert. «Privat war Elisabeth Müller eine nüchterne Person», erklärt Samuel Sommer undzitiert, was die Schriftstellerin über ihre Schreibtätigkeit geschrieben hat: «Aus lauter Langeweile hatte ich diesen Furz zu schreiben.»
Ganz anders, nämlich voller Poesie und Humor, schildert die Schriftstellerin im Buch «Die Quelle» das Wunderland ihrer Kindheit. Das reiche Innere der Dichterin offenbart sich hier aufs Schönste. Die Leser freuts. Sie entdecken, dass die Dichterin Dinge ausdrückt, die auch sie erlebt haben. Dankbar drücken sie die Schriftstellerin ans Herz.
Lesung im Libretto
Zu Ehren Elisabeth Müllers findet am Donnerstag, 24. Februar, 20 Uhr, im Buchantiquariat Libretto an der Oberstrasse 34, Langnau, eine Lesung statt. Hans-Peter Zaugg liest aus ihrem Buch «Die sechs Kummerbuben». In die Lesung einführen wird Samuel Sommer. Wegen begrenzter Sitzplätze ist eine Reservation erforderlich.Diese kann über Telefon
079 453 23 13 oder E-Mail: info@libretto-antiquariat.ch erfolgen.
Das Bild oben stammt aus dem Buch: «Elisabeth Müller» von Walter Laedrach; Berner Heimatbücher, Verlag Paul Haupt, Bern.
17.02.2011 :: Bettina Haldemann-Bürgi (bhl)