Geniessen die gemeinsame Flechtwoche: Brigitte von Wartburg, Doris Erni und Kursleiter Urs Schwarz (von links). Die Binsenhüte sind übrigens auch im Kurs geflochten worden. / Bild: Remo Reist (rrz)
Langnau: Während einer Woche flochten blinde und sehbehinderte Menschen eigene Werke. Kursleiter Urs Schwarz leitet den Oktoberkurs seit mehreren Jahren.
Die Atmosphäre im Kursraum des Hotel Hirschen ist entspannt und konzentriert zugleich. Es ist bereits der vierte Kurstag und alle Teilnehmenden sind motiviert bei der Sache. Den ganzen Tag lang flechten sie hobbymässig an ihren Projekten. Ein Hut und kleine Körbe mit etlichen Musterwechseln liegen schon fertig auf einem Tisch, daneben eine Wanddekoration aus Rattan, erstellt in der so genannten Chaos-Technik. Nebenan ist eine Frau daran, aus geschälter Weide einen grossen Korb herzustellen; eine weitere Frau präsentiert den fertiggestellten Dekorations-Stern aus starken rohen Weiden.
Spürbare Begeisterung
Mit seinem Hocker rollt Kursleiter Urs Schwarz immer mal wieder locker hin und her und kontrolliert die Arbeitsschritte. Er ist seit seinem elften Lebensjahr vollständig blind und lebt schon immer mit einer Gehbehinderung. Diese Einschränkungen sind hier eine Randbemerkung. Er ist in seinem Element, mag seine Arbeit und gibt fröhlich Auskunft. Eine ausgebildete Korbflechterin und ein Korbflechter sind unterstützend die ganze Zeit anwesend. «Es lohnt sich, als blinde Person die Messer immer gleich hinzulegen», sagt eine Teilnehmerin und zeigt lachend das kleine Pflaster an ihrem Finger. Brigitte von Wartburg aus Konolfingen ist seit 2017 jedes Jahr bei dem Kurs dabei - als einzige Teilnehmerin aus der Region. «Ich übernachte auch hier, wir fühlen uns in diesem Haus mit der sagenhaften Küche willkommen», sagt sie. Dieses Jahr hat sie sich für einen Stuhl aus Rattan entschieden. Bei der ersten Teilnahme habe sie mit einfacheren Projekten begonnen. «Ich freue mich immer irrsinnig auf diese Woche, auch das Zusammensein ist wertvoll.» Eine weitere Teilnehmerin, Doris Erni aus Gunten, besucht den Kurs dieses Jahr zum ersten Mal. Sie habe den ganzen Sommer «gebibbert» bezüglich des jetzt fertiggestellten Binsenhuts. Jetzt arbeite sie bereits am dritten Projekt dieser Woche, quasi der Zugabe.
Eine Woche unter Gleichgesinnten
Der Kurs wird jeweils durch den Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband ausgeschrieben. Kursleiter Urs Schwarz ist seit 37 Jahren als Korbflechter in Aeschau tätig. «Das Flechthandwerk kennt etliche Techniken, verschiedenste Materialien können zu einem Brotkorb, einem Lampenschirm oder einer Schale verflochten werden. Für mich ist es eine Möglichkeit, zu zeigen, wie viel in der Flechterei steckt. Beim Handwerk werden Feinmotorik, Materialverständnis und das Formenverständnis geschult», betont Schwarz. Gerade für blinde Menschen sei diese dreidimensionale Vorstellungskraft wertvoll - auch im Alltag. Schwarz leitet gerne auch Kurse für sehende Teilnehmende, doch diese Woche habe eine andere Qualität. «Hier muss niemand erklären, warum er die Dinge anfasst, statt sie anzuschauen.» Ausserdem gehe es um das Zusammensein. Mit 21 Jahren machte er sich mit seiner Korb- und Stuhlflechterei selbstständig. Am liebsten arbeite er mit Weiden, schon seit er vor vier Jahrzehnten seine Ausbildung zum Korbflechter EFZ bei den Vereinigten Blindenwerkstätten in Bern begonnen habe, sagt er. «Das Schönste an meiner Arbeit ist, am Morgen eine Handvoll Weiden zu haben und einige Zeit später ist ein dreidimensionales Gefäss entstanden, ohne Nagel, Draht, Leim. Ob ich rohe oder geschälte Weiden brauche, kann ich erfühlen. Bei den Farben muss ich mich jedoch darauf verlassen, dass sie am richtigen Ort stehen.»
Auf die Defizite reduziert
So erfüllend die Arbeit sei, so sehr fehle die gesellschaftliche Wertschätzung. «Menschen mit Einschränkungen werden zu oft auf ihre Defizite reduziert, ihre Stärken werden übersehen», sagt Schwarz. Blinde Handwerkende erhielten kaum genügend Anerkennung. «Oft arbeiten sie in geschützten Werkstätten ohne eidgenössischen Abschluss. Dabei hätten viele Menschen so wie ich das Potenzial, ein Handwerk zu erlernen.» Die Korbflechterei habe in Blindenwerkstätten zwar eine lange Tradition, doch es bräuchte ein Umdenken und mehr Förderung der Handfertigkeit. «Generell kann gesagt werden: Wer blinde Menschen im ersten Arbeitsmarkt anstellt, erhält Beratung und Unterstützung und wird finanziell unterstützt.» Als Gründungsmitglied der Interessengemeinschaft Korbflechterei Schweiz hat Urs Schwarz 30 Jahre lang Vorstandsarbeit geleistet. Dank seines Berufs könne er ein zufriedenes, selbstständiges Leben führen, sagt er. Seine Produkte verkauft er an Märkten und Ausstellungen, das meiste ist jedoch Auftragsarbeit. Hier und heute gilt sein Fokus aber voll und ganz den Hobby-Flechtenden. «Während dieser Kurswoche erkennen alle, dass sie mit ihren Händen Erstaunliches schaffen können.»