Königinnen und Könige kommen in Märchen aus aller Welt vor – wie hier in der Geschichte «Der Ring» der dänisch-schwedischen Schriftstellerin Helena Nymblom. / Bild: zvg
Königlich (4/6): In der Märchenwelt kommen Königinnen und Könige zuhauf vor. Aber warum eigentlich? Märchenexperte und -erzähler Hasib Jaenike gibt Auskunft. Und er spricht über die heutige Bedeutung und Erzählkraft der überlieferten Geschichten.
«In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön...» Mit diesen Worten beginnt «Der Froschkönig» und damit auch die Sammlung der «Kinder- und Hausmärchen» der Brüder Grimm. Diese einleitenden Worte sind klassisch. Auch, dass Königsfiguren in Märchen eine Rolle spielen, ist häufig. «Die Grimmsche Sammlung umfasst 200 Geschichten, in 76 davon kommen Königinnen oder Könige vor», sagt Hasib Jaenike. «Es ist die am stärksten vertretene Berufsgruppe in der Sammlung.» Jaenike kennt sich mit der Materie aus. Er hat 2003 zusammen mit seiner Frau Djamila die Mutabor Märchenstiftung gegründet. Die Organisation mit Sitz in Trachselwald setzt sich mit verschiedenen Projekten für den Erhalt der Märchen- und Erzählkultur ein. Unter anderem verfügt sie über eine Datenbank mit rund 8000 Schweizer Märchen und Sagen. Der Stiftungsgründer ist seit über 30 Jahren selbst als Märchenerzähler unterwegs.
Könige haben viele Eigenschaften
Die Präsenz von Königen komme daher, dass die ursprünglichen Märchen viel älter seien, als wir glauben, erklärt der Experte. Sie würden aus einer Zeit stammen, die weitgehend autokratisch organisiert war. Auch die Herkunft der Geschichten mache dabei kaum einen Unterschied. Königinnen und Könige würden in Märchen aus der Schweiz genauso vorkommen wie in indonesischen oder chinesischen Erzählungen. «In allen Kulturen und Zeiten hatte man Anführer, und das spiegelt sich in den Überlieferungen wider.» Der König steht häufig für Weisheit und Gerechtigkeit – aber nicht nur. «Es sind ambivalente Charaktere», sagt Hasib Jaenike. Wie alle menschlichen Figuren können sie gut und böse sein. Sie würden einmal als grössenwahnsinnig und machtgierig geschildert, in anderen Erzählungen als gütig dargestellt.
Thronfolge und Machtmissbrauch
In Märchen sind Gegenspieler wie böse Stiefmütter, Hexen oder Wölfe unverzichtbar. Sie treiben die Handlung voran. Wer tritt als Gegner des Königs in Erscheinung? Oft seien dies Personen aus dem Volk, erklärt der Märchenkenner, «zum Beispiel ein einfacher Hirte oder Bauer.» Auch die Königin sei manchmal eine Rivalin. Die Konflikte würden sich oft um Machtmissbrauch drehen. Zum Beispiel in «König Drosselbart», wo ein König seine Tochter für ihren Hochmut bestraft, oder in «Rumpelstilzchen», wo ein König die Müllerstochter zu unmöglichen Aufgaben zwingt.
Ein wiederkehrendes Thema ist auch die Thronfolge. «Klassischerweise müssen die Anwerber Aufgaben bestreiten, um sich als geeignete Nachfolger zu beweisen», sagt Hasib Jaenike.
Märchen machen Mut
Doch passen diese alten Geschichten noch in unsere Zeit oder sind sie längst überholt? «In Märchen findet man immer wieder zeitgemässe Themen», ist der Experte überzeugt. Ein Beispiel sei das erwähnte Thema der Nachfolge. Diese Frage stelle sich in heutigen Familienunternehmen auch. Darüber hinaus böten die Erzählungen Orientierungshilfe zu zeitlosen Themen wie Mut, Freundschaft oder Ehrlichkeit. Sie würden in symbolischer Form Lebensprobleme schildern und Auswege aufzeigen. Hasib Jaenike, der, bevor er beruflich auf Märchen umsattelte, als Psychologe tätig war, sagt sogar: «Ich habe in Märchen mehr Lösungsansätze gefunden als in der Psychologie.» In diesen Erzählungen resigniere niemand, keiner versinke in Depressionen. «Wenn ein Problem auftaucht, wird gehandelt. Die Figuren können die Zuversicht vermitteln, vorwärtszugehen.»
Die Kunst des Erzählens
Fast so wichtig wie der Inhalt ist, dass die überlieferten Geschichten mündlich erzählt werden. «Sie entfalten ihre Kraft in der gesprochenen Sprache», sagt Jaenike. Sie seien nur aufgeschrieben worden, um sie erhalten zu können. «Erzählen ist eine anspruchsvolle Kunst», führt er aus. Darum werden durch die Mutabor Märchenschule auch Erzählerinnen und Erzähler ausgebildet – bis heute mehr als 500. Sie treten an öffentlichen oder privaten Anlässen auf. Geschichten erzählen und zuhören – das fördere Gemeinschaft, so Jaenike. «Es gibt doch nichts Schöneres als zusammen in einem Märchen zu versinken.»