Stefan Kneubühler demonstriert das Training mit einem Brock-String, mit dem die Blickstabilität verbessert werden kann. / Bild: Micha Strohl (msz)
Sport: Eine Hirnerschütterung ist eine komplexe Verletzung, zu der oft das Wissen fehlt. Physiotherapeut Stefan Kneubühler hat ein Schema mitentwickelt, mit dem Athletinnen und Athleten schnell und sicher zurück in den Wettkampf finden sollen.
Kopfschmerzen, Müdigkeit, Sehstörungen, Lärm- und Lichtunverträglichkeit, verminderte Belastbarkeit - das sind nur einige der vielen möglichen Symptome bei einer Hirnerschütterung. Ob im Alltag, bei der Arbeit oder im Spitzensport - eine Hirnerschütterung kann wochen-, monate- oder gar jahrelang einschränken. Was tun, wenn man betroffen ist? «Ruhig sein, in einem stillen und abgedunkelten Zimmer möglichst viel liegen», so die gängige Meinung. «Falsch», sagt Stefan Kneubühler. Er ist Physiotherapeut mit Schwerpunkt Sport und neurozentrierte Therapie und betreut täglich Patientinnen und Patienten mit Hirnerschütterungen. «Der neueste wissenschaftliche Konsens ist, dass Aktivität in der Reha besser ist und die Symptome so weniger werden.» Schon ab dem zweiten Tag schicke er Betroffene wieder auf den Fahrradergometer. Kneubühler erklärt: «Man darf sogar leichte Symptome wie steigende Kopfschmerzen in Kauf nehmen, solange kein Risiko für Erschütterungen oder Schläge gegen den Kopf besteht.» Als Faustregel gilt: Auf einer Skala von 1 bis 10 dürfen Symptome um 2 Punkte steigen, solange sie innerhalb einer Stunde wieder auf das Ausgangsniveau absinken.
Das Gehirn braucht viel Energie
Stefan Kneubühler arbeitet bei der Physiotherapie Kipfer in Langnau. Er betreut sämtliche physiotherapeutischen und athletischen Anliegen der Unihockeyspielerinnen von Skorpion Emmental, angefangen beim Sommertraining, über das Athletiktraining während der Meisterschaft, bis zur Betreuung der verletzten Spielerinnen. Darunter hatte es immer wieder solche mit Hirnerschütterungen. Auch Athleten anderer Vereine gelangen regelmässig an Kneubühler, da sie auf seine Erfahrung in der Therapie von Concussions, wie Hirnerschütterungen auf englisch genannt werden, zurückgreifen wollen. Was rät er Spielerinnen und anderen Betroffenen unmittelbar nachdem sie sich eine Hirnerschütterung zugezogen haben? «In der ersten Phase gilt für alle das gleiche», erklärt Kneubühler. «Regelmässig - am besten stündlich - essen und snacken und so den Glucosespiegel hochhalten. Mithilfe von Atemübungen die Durchblutung des Gehirns fördern, ausreichend schlafen, den Körper auf dem Veloergometer oder mit Spaziergängen aktivieren und die Bildschirmzeit auf das absolute Minimum reduzieren.» So lasse sich die Energieverfügbarkeit im Hirn erhöhen und viele Symptome deutlich reduzieren.
Symptome sind vielfältig
Ist die erste Phase überstanden, gilt es herauszufinden welche Symptome bestehen bleiben. «Wir führen dafür eine Reihe von Tests in fünf verschiedenen Bereichen durch», erklärt Stefan Kneubühler. Der visuelle Bereich umfasst Symptome wie Doppelbilder oder Lichtempfindlichkeit, der vestibuläre sämtliche Probleme mit dem Gleichgewicht. In die Kategorie Stabilität fallen etwa Schwierigkeiten beim Laufen oder beim Einbeinstand. Viele Patientinnen und Patienten beklagen auch Symptome im Bereich der Halswirbelsäule wie Nackenverspannungen oder Schmerzen bei Kopfbewegungen. Die letzte Kategorie, HerzKreislauf, beinhaltet die Probleme mit einem Pulsanstieg oder langer Erholungszeit, etwa nach dem Treppenlaufen. Im Anschluss an die Tests werden Symptome mit spezifischen Übungen behandelt. Hat eine Patientin zum Beispiel Mühe, scharf zu sehen, so kommt oft ein sogenannter Brock-String, eine Art Kugel-Schnur, zum Einsatz. Eine Schnur wird vor der Nasenspitze gespannt und die Augen fixieren die farbigen Perlen, womit die Blickstabilität trainiert werden kann. Für eine andere Übung zur Bekämpfung visueller Hirnerschütterungssymptome wird ein Bleistift mit aufgedruckten Buchstaben verwendet. Diese können in verschiedenen Distanzen und unter Bewegung fixiert werden.
Neues Modell zur Wettkampfrückkehr
Wie gut muss der Patient in den einzelnen Übungen sein? Wie intensiv darf er sich in den fünf Bereichen belasten? Wann kann eine Spielerin wieder ins Teamtraining oder in den Wettkampf zurückkehren? Fragen, die oftmals schwierig zu beantworten sind, auch für medizinische Fachleute. Stefan Kneubühler wollte darauf Antworten finden und Richtlinien definieren, an die sich Patientinnen und Therapeuten halten können. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen hat er ein «Return to Sport»-Modell entwickelt. Dieses Stufenprotokoll nach Gehirnerschütterungen soll Athletinnen und Athleten helfen möglichst zügig, aber gefahrlos in den Wettkampfbetrieb zurückzukehren. «Im Gegensatz zu bereits bekannten Modellen unterteilen wir in die fünf genannten Bereiche. Für jeden Bereich sind viele Übungen, Therapieformen und auch Tests enthalten», erklärt Stefan Kneubühler. «So kann sich der Patient stufenweise steigern.»
Das Modell fasst viel Wissen rund um Hirnerschütterungen zusammen. So entstand ein Leitfaden, der dem medizinischen Personal als Hilfe bei der Reha aller Hirnerschütterungspatienten dienen soll. «Manches wurde von uns selber entwickelt und basiert auf der Erfahrung im Umgang mit Athletinnen und anderen Patienten», so Kneubühler.
Das Nervensystem ist trainierbar
«Alle Patientinnen und Patienten reagieren unterschiedlich auf Belastungen. Praktisch bei allen sind aber grosse Fortschritte erkennbar, wenn neurozentriert gearbeitet wird», erklärt der Physiotherapeut. «Das Nervensystem ist die veränderbarste Struktur im ganzen Körper und somit gut trainierbar.» Das ist für Stefan Kneubühler die wichtigste Mitteilung. Noch immer aber werde dieses viel zu wenig verstanden. Ob sich Hirnerschütterungen im Unihockey und vergleichbaren Sportarten gehäuft haben, kann Kneubühler nicht sagen; aussagekräftige Daten existieren nicht. «Mit Sicherheit ist aber die Sensibilität für das Thema grösser geworden», betont er. «Bei Hirnerschütterungen gibt es im Gegensatz zu manchen anderen Verletzungen keine Grauzone. Hat man eine, darf nicht weitergespielt werden.» Denn in den ersten zwei bis vier Wochen nach dem Unfall könnte ein zweiter Vorfall die Symptome um ein Vielfaches verschlimmern. Obwohl das Wissen um Kopfverletzungen in den letzten Jahren enorm zugenommen hat, wünscht sich Stefan Kneubühler für die nahe Zukunft vor allem eines: bessere Aufklärung. Dazu soll auch das von ihm mitentwickelte Schema beitragen. Denn: «Es ist wichtig, in der Reha aktiv zu sein und nicht in Passivität zu verfallen.»