Max Schüpbach in seiner Arzt-Apotheke - im Hintergrund fallen die deckenhohen Regale voller Fläschchen aus Glas auf. / Bild: zvg
Konolfingen: Max Schüpbach war Dorfarzt und mitverantwortlich dafür, dass das Zahnärztliche Institut gegründet wurde. Eine wesentliche Rolle in seinen Behandlungen spielte die örtliche Betäubung mit Kokain.
«Hier haben wir die Arztpraxis eingerichtet.» Im Museum Alter Bären öffnet Co-Leiter Werner Weber eine Türe. Was sich dahinter verbirgt, war einst Bestandteil der Praxis von Max Schüpbach und seinem Sohn Werner. Sofort füllt deren eindrückliche Apotheke auf: Deckenhohe Regale voller Fläschchen aus Glas für Salben und Tinkturen, alle fein säuberlich beschriftet. «Hustentropfen» steht beispielsweise auf einem, «Tonicum forte» auf einem anderen. Eine Liege und allerlei medizinische Instrumente sind ebenfalls zu bestaunen. Im Raum verteilt hängen alte Familienfotos und Porträts der beiden Ärzte und Bilder ihres stattlichen Hauses «Grünegg». Der Name der über 100-jährigen Villa, wie sie der Museumsleiter nennt, ist eine Erfindung des Bauherrn Max Schüpbach. Später wurde der Begriff «Grünegg» fürs ganze Quartier genutzt, das im Laufe der Zeit um das Haus herum entstand.
Viel gepriesenes Wundermittel
Nach wie vor ist das Doktorhaus, das laut Werner Weber bis 1933 noch zur Ortsgemeinde Ursellen gehörte, in Familienbesitz. Urenkel Michael Schüpbach, ebenfalls ein bekannter Arzt und Neurologe, lebt inzwischen mit seiner Familie darin. Ihn könnte man auch als lebendes Geschichtsbuch bezeichnen – jedenfalls was seine Familie und die Medizin angeht. So weiss er, dass Urgrossvater Max 1871 in Oberdiessbach geboren wurde als Sohn eines Arztes und als ältester von vier Geschwistern. Nach seinem Studium gründete er eine Familie und eröffnete 1900 eine eigene Arztpraxis in seinem neuen Haus Grünegg. Schüpbachs waren ferner die ersten im Dorf mit fliessendem Wasser und einem Auto. Weitherum bekannt wurde der Arzt aber nicht wegen der besonderen Anschaffungen, sondern als «derjenige, bei dem man sich die Zähne ohne Schmerzen ziehen lassen kann». Denn um diese Zeit fand ein neues Mittel den Weg in die Schweiz: Kokain. Gemäss Wikipedia gelang es 1860 dem deutschen Chemiker Albert Niemann zum ersten Mal, reines Kokain aus den Blättern des Koka-Strauches herzustellen. In grösseren Mengen produziert wurde es wohl erstmals in den USA. Bald entdeckte man unter anderem seine betäubende Wirkung auf Schleimhäute, worauf es bei Augenoperationen zum Einsatz kam. Dem Wundermittel wurde auch sonst allerlei zugetraut, wie ein Blick ins Schweizerische Zeitungsarchiv zeigt: 1886 berichtete der «Berner Volksfreund» bereits über das neue und «viel gepriesene» Mittel gegen Schnupfen – Watte, getränkt in einer verdünnten Kokain-Lösung werde in die Nase eingeführt. Nach zwei Anwendungen sei die Heilung vollkommen. 1888 findet sich in der NZZ gar ein Telegramm aus Berlin – der kranke Kaiser werde mit «Wein, Whisky und Kokain» behandelt, was das Fieber schon gesenkt habe.
40 präzise Zangen
Doch schon knapp 20 Jahre später schreibt wiederum der «Berner Volksfreund», dass in den Südstaaten Nordamerikas der «Kokainismus», also das Einatmen durch die Nase, um sich greife. So sehr, dass einige Schankwirte ihre Lokale schliessen mussten, da die Kunden nun Kokain dem Alkohol vorzügen. Das Gift erzeuge zwar angenehme Träume, doch leider füllten sich in Folge die dortigen «Irrenanstalten». Hierzulande jedoch setzte man auf die positiven Wirkungen des neuen Mittels. Auch Max Schüpbach besorgte sich die Substanz und begann, sie seinen Patienten zur örtlichen Betäubung unter die Haut zu spritzen. «Auf diese Weise macht es übrigens nicht süchtig», stellt Urenkel Michael Schüpbach klar. Zu hoch dosiert, kann es jedoch Nebenwirkungen wie Herzrhythmusstörungen verursachen. «Der Verdienst meines Urgrossvaters war es, die richtige Verdünnung zur Verabreichung als Anästhetikum gefunden zu haben.» Er war somit der erste Arzt weit und breit, der schmerzlos Zähne ziehen konnte. Kein Wunder, pilgerten die Patienten von nah und fern herbei. Die gezogenen Zähne warf Schüpbach jeweils in den Kiesweg vor dem Haus. Um für alle Zähne und Zahnstellungen gewappnet zu sein, besorgte er sich insgesamt rund 40 verschiedene, erstaunlich präzise Zangen. Doch eigentlich wollte er lieber ein normaler Arzt sein, kein Zahnarzt. Schliesslich liess sich 1905 ein Zahntechniker in der Nachbarschaft nieder und 1912 folgte der Zahnarzt Dr. Favre. Zuerst richteten sich die beiden in der Nähe eine Praxis ein, doch schon bald entstand neben dem Doktorhaus das Zahnärztliche Institut. Im privaten Museum der heutigen Inhaber des Instituts, Kaspar und Peter Bigler, steht immer noch ein imposanter historischer Zahnarztstuhl aus dieser Zeit.
Kokain ist aus Praxen verschwunden
Max Schüpbachs Zangen werden heute zwar nicht mehr benutzt, erzählt der Zahnarzt Kaspar Bigler, doch viel habe sich an deren Prinzip nicht verändert. Kokain ist hingegen aus den Praxen verschwunden und wurde durch besser verträgliche Mittel ersetzt. Die Praxis von Max Schüpbach und seinem Sohn und Nachfolger Werner gibt es im Gegensatz zum Zahnärztlichen Institut nicht mehr. Man kann aber im Museum «Alter Bären» viel über die beiden erfahren. Auch der Museumsleiter und ehemalige Lehrer Werner Weber kennt einige Geschichten und Gerüchte. Das Zitat einer «Hötschiger»-Frau wurde in einem Nachruf im «Alten Bären» niedergeschrieben und solle – so steht es – verdeutlichen, wie beliebt Max Schüpbach seiner Zeit, auch ohne das Zähne ziehen, gewesen sei: «Ds Chrank-sy tät mi nüt fröie, weni nid zum Doktor Schüpbach chönnt.» Ein schöneres Kompliment für einen Arzt gibt es wohl kaum.