«Ich fühle mich so frei!»

«Ich fühle mich so frei!»
Andrea Ramseier wird von ihrem Guide, Remo Reist, durch ein Band geleitet. / Bild: Bruno Zürcher (zue)
Trubschachen: Dank ihres Guides kann Andrea Ramseier trotz ihrer Sehbehinderung joggen. Seit einem Jahr lässt sie sich regelmässig von Remo Reist leiten.

Als Sehender fällt es einem schon schwer, stehend mit geschlossenen Augen das Gleichgewicht zu halten – geschweige denn zu rennen. Schaut man Andrea Ramseier zu, wie sie rennt, bewegt sie sich völlig natürlich, obwohl ihr Sehvermögen stark eingeschränkt ist. Dabei ist sie nur mit einem Bändel – den sie in der Hand hält – mit ihrem Guide, Remo Reist, verbunden. Und es ist nicht so, dass die beiden über eine ebene Strasse joggen. «Mir sy scho strub drinne gsy», berichtet sie und lacht. Ihre heutige Runde startet beim Heimatmuseum in Trubschachen. Von dort gehts über die Ilfis, beim Mehrzweckgebäude vorbei, und dann steuern die beiden den steilen «7-Brüggli-Wäg» an.


Klare Ansagen

«Wasserlouf» lautet die Ansage des Guides. Und genau dann, als die beiden vor der Wasserrinne ihren Fuss aufsetzen, gibt er das Kommando «jtz», damit Andrea Ramseier weiss, dass sie nun einen etwas grös­seren Schritt nehmen muss. Weiter gehts. «Wurzle.» «Brüggli links.» Im lockeren Trab passieren die beiden insgesamt sieben kleine, hölzerne Brücken. Erst wenn man versucht, sich in die Lage einer sehbehinderten Person zu versetzen, wird einem bewusst, wie viele Hindernisse und Stolperfallen auf einer Joggingrunde lauern: Äste, welche in den Pfad ragen; Treppenstufen oder Armierungsnetze, die auf die Bretter der «Brüggli» montiert wurden, damit niemand ausrutscht. Was als Schutz gedacht ist, kann auch zur Stolperfalle werden. Nicht aber für Andrea Ramseier. Ihr Guide leitet sie ruhig und konzentriert über all die schmalen Übergänge. Seit er als Blinden-Guide im Einsatz stehe, sei er auch aufmerksamer, wenn er alleine trainiere. «Ich mache seither kaum mehr einen Misstritt», berichtet Remo Reist. Apropos Misstritt: «Marchsteine können gefährliche Stolperfallen sein», meint er dazu und zeigt auf den Stein am Rand des Pfads. Mit leichtem Druck lenkt er «seine» Läuferin etwas nach links, damit beide den Marchstein umlaufen können. «Die sehbehinderten Menschen, mit denen ich jogge, brauchen wenig Hilfe», hat Remo Reist die Erfahrung gemacht. «Im Gegenteil. Es ist schon öfter vorgekommen, dass ich sie nach dem Weg fragen musste. Blinde haben einen enorm guten Orientierungssinn.» Reist ist einer von schweizweit rund hundert Guides des Vereins Blind-Jogging (siehe Kasten). «Menschen mit Handicap sollen ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen dürfen. Als Blind-Jogging-Guide kann ich ein wenig dazu beitragen, deren Inklusion zu fördern.» Laufen war immer Remo Reists Sport. Noch heute, mit 45 Jahren, trainiert er mehrmals wöchentlich. Ein Blinden-Guide muss das Tempo der sehbehinderten Per-son locker mithalten können. Nebst der Vermittlung von theoretischem und praktischem Wissen gehört auch ein Selbstversuch mit verbundenen Augen zur Ausbildung. Bestehe man diese und bewähre sich in den zwei obligatorischen Praktika, könne man als Blinden-Guide starten.


Draussen Sport treiben

Andrea Ramseier und Remo Reist sind mittlerweile ein gut eingespieltes Tandem. Der Kiesweg führt nun aus dem Wald heraus und über eine Wiese. Zeit für eine Pause. Andrea Ramseier strahlt über das ganze Gesicht. «Ich fühle mich so frei! Das ist ein schönes Gefühl!» Sie könne sich zwar im Alltag mit dem Blindenstock gut selbstständig bewegen. «Das Joggen gefällt mir besonders gut, weil ich draussen Sport treiben kann. Ich bin sehr gerne in der Natur», sagt die 48-Jährige, die beruflich als medizinische Masseurin tätig ist und mit ihrem ebenfalls sehbeeinträchtigten Ehemann zusammenlebt. Trainiert wird auch im Winter, selbst wenn das Wetter garstig ist. «Einmal war es richtig grusig», erinnert sie sich. «Aber es war eine tolle Erfahrung. Remo ist den Weg der Ilfis entlang extra vorgängig abgelaufen, um zu schauen, ob es geht.» Sie sei sehr dankbar für den Dienst, den ihr Guide kostenlos leiste, fügt Andrea Ramseier an. Dieser entgegnet, dass die Tätigkeit auch für ihn eine Bereicherung darstelle. Er laufe mit einem halben Dutzend Sehbehinderter. «Wenn ich an der Türe klingle, wird diese stets von gut gelaunten Leuten geöffnet.»


Gemeinsam an den Start gehen

Eine Stunde zu laufen, stellt für Andrea Ramseier nach einem Jahr Training kein Problem mehr dar. «Andrea hat einen sehr guten Laufstil», rühmt Remo Reist. Und sie mache grosse Fortschritte. «Angefangen haben wir mit kurzen Laufstrecken, dazwischen sind wir marschiert. Und nun kann sie ein flottes Tempo von rund sechs Minuten pro Kilometer rennen.» Die beiden haben auch schon ein erstes Wettkampfziel definiert. Gemeinsam werden sie im Herbst am Ämmelauf Littau an den Start gehen. Bis dahin werden sie noch etliche Joggingrunden miteinander drehen.

Schweizweit 100 Guides

Der Verein Blind-Jogging ist seit 2006 im Laufsport tätig. Die schweizweit 100 Guides laufen mit rund 90 sehbeeinträchtigten beziehungsweise blinden Läuferinnen und Läufern. Während es jahrelang an Guides mangelte, könnten nun mehr Läuferinnen und Läufer begleitet werden, sagt Gabor Szirt, Präsident des Vereins. Er wolle alle sehbehinderten Menschen ermuntern, sich zu melden und ein Schnuppertraining zu absolvieren. Müssen Laufwillige gewisse Anforderungen erfüllen? «Nein, überhaupt nicht», sagt der Präsident. «Wir sind offen für Leute, die zum ersten Mal joggen, aber auch für solche, die sich zum Ziel gesetzt haben, einen Marathon zu laufen.» Infos: blind-jogging.ch

16.05.2024 :: Bruno Zürcher (zue)