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Eine entbehrungsreiche Zeit

Eine entbehrungsreiche Zeit
Bahnarbeiter und -angestellte beim Bahnhof Zollbrück. / Bild: zvg
Langnau: Warum wurden die Langnauer Sozialdemokraten gegründet? Was geschah während des Ersten Weltkrieges und der Spanischen Grippe? Welche Anliegen der Linken waren erfolgreich, welche scheiterten? Ein Buch beleuchtet eine Epoche bewegter Lokalgeschichte.

14 Jahre lang schrieb Martin Jäggi regel­mässig für «Links i.?E.», das Parteiorgan der Langnauer SP. Die Texte des im Oktober verstorbenen SP-Mitglieds sind Schlaglichter auf die Geschichte der Langnauer Arbeiterbewegung. Sie beleuchten die Zeit vom Anfang des letzten Jahrhunderts bis in die Dreissigerjahre. Hanspeter Buholzer, Blattmacher von «Links i.E.», sagt: «Es sind einzigartige und gut recherchierte Texte über diese harte, entbehrungsreiche Zeit. Martin Jäggi war ein Dorfchronist.» Buholzer war es denn auch, der nach dem Tod von Martin Jäggi die Publikation von dessen gesammelten Texten initiierte. «Der steinige Weg», heisst das Buch, das die SP Langnau nun herausgegeben hat. Das 80-seitige Werk zeigt eindrücklich soziale und politische Konflikte in der Region auf und beschreibt, wie sich grosse historische Ereignisse auf die hiesige Bevölkerung ausgewirkt haben. Hier ein paar Beispiele.


Lebensmitteldepot und Arbeitslosigkeit

Im Sommer 1914 bricht der 1. Weltkrieg aus. Auch in Langnau bereitet man sich vor. An einer Gemeindeversammlung stimmen alle 41 Anwesenden einem Notkredit von 25´000 Franken zu, um ein Lebensmitteldepot für den Fall einer Hungersnot zu finanzieren. Das Depot wird in der Dorfmühle eingerichtet. Mitglieder des seit 1846 bestehenden Grütlivereins Langnau – einer Vorgängerorganisation der heutigen SP – wenden sich an den Gemeinderat mit der Frage, «auf welche Weise die Herren vorzugehen gedenken zum Schutz Unbemittelter respektive Arbeitsloser.» Die Angst vor Arbeitslosigkeit sei nicht aus der Luft gegriffen gewesen, schreibt Martin Jäggi: Verschiedene Unternehmen stellen ihren Betrieb zu Kriegsbeginn ein oder reduzieren Arbeitsplätze – so etwa das Baugeschäft F. Mühlemann, die Tuchfabrik Zürcher & Co oder die Tuchfabrik Reichen, Lauterburg & Cie im Bärau. Bei letzterem Unternehmen waren vor dem Ausbruch des Krieges 220 Frauen und Männer angestellt. Ende August 1914 wird die Zahl der Arbeitsplätze mit «ungewiss» angegeben.


Parteigründung und Mitgliederzuwachs

1916 beschliesst der Grütliverein Langnau den Austritt aus dem Grütlizentralverein, wo eine konservative Leitung übernommen hat. Am 4. Oktober gründen elf Männer stattdessen die Sozialdemokratische Mitgliedschaft Langnau. Gut ein Jahr später ist die Mitgliederzahl auf 60 «Genossen» angewachsen. Im November 1917 findet erstmals eine Parteiversammlung im Hotel Bahnhof statt. Aus welchem beruflichen Umfeld stammten die Mitglieder? Laut Jäggi waren viele Bahnangestellte, Telefon- und Metallarbeiter sowie Hölzige vertreten. Aber auch Schumacher, Maler, Elektriker und Postmitarbeiter seien unter den Mitgliedern gewesen. In Langnau bestehen zu dieser Zeit verschiedene Arbeitergruppierungen. Es habe aber ein Dach gefehlt, schreibt Jäggi. Daher wird im November 1917 die Arbeiterunion gegründet, welcher auch die Sozialdemokraten beitreten. Die Arbeiterunion vertritt nun rund 150 Mitglieder. Im Dezember wird der neuen Kraft bereits ein Platz im Gemeinderat angeboten. Das Amt übernimmt Rudolf Krebs, Telefon-Chefmonteur und Präsident der Sozialdemokraten und der Arbeiterunion. Priorität haben in dieser Phase lokale Fragen, zum Beispiel die Errichtung einer elektrischen Stromleitung in den Frittenbach.


Spanische Grippe und der Generalstreik

Während des 1. Weltkrieges erreicht die Spanische Grippe auch Langnau. Die ersten Opfer sind zwei Soldaten. Bald bricht die Krankheit in der Dorfbevölkerung aus und fordert zahlreiche Tote, die Jäggi namentlich recherchiert hat. 

Zuständig für Eindämmungsmassnahmen sind vorerst die Gemeinden. In die gleiche Zeit fällt der Generalstreik. Jäggi schreibt, dies sei fatal gewesen: Der Virus habe sich unter den streikenden Arbeitern und den zur Niederschlagung des Streiks aufgebotenen Truppen schnell verbreitet. Im Sekundarschulhaus am Höheweg wird ein Notspital eingerichtet, das Krankenhaus ist vollständig ausgelastet.


Misserfolge und progressive Vorhaben

Am 9. Januar 1921 findet in Langnau die «wohl bestbesuchte Veranstaltung aller Zeiten» statt: eine Gemeindeversammlung mit 1151 Stimmberechtigten. Es geht um die Fragen, ob künftig ein Grosser Gemeinderat und ein Proporzverfahren eingeführt werden soll. Insbesondere die Bauern- und Bürgerpartei (heute SVP) ist dagegen, die Mehrheit der Fortschrittlichen (heute FDP) und die Arbeiterunion sind dafür. Nach einer geheimen Abstimmung, für die über 1000 Zettel verteilt und ausgezählt wurden, ist das Resultat eindeutig:  Es bleibt beim Majorzsystem, der GGR wird nicht eingeführt. «Langnau komme ohne sozialistische Experimente aus.» Bei den Gemeinderatswahlen 1929 nominiert die Arbeiterunion mit Babette Röth­lisberger eine «äusserst aktive und links ausgerichtete» Frau für die Armenkommission. Dies sei im ländlichen Langnau dieser Zeit ein mutig-progressives Vorhaben gewesen, schreibt Jäggi. Die Frauennomination stösst bei den bürgerlichen Parteien auf kein Verständnis und scheitert klar.


Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur

Die sozialdemokratische Bewegung war laut Jäggi die politische Antwort auf die wirtschaftliche Verelendung in breiten Kreisen der Bevölkerung. Nebst der politischen Tätigkeit der Partei, der späteren Frauengruppe und der Arbeiterunion, entwickelte sich in Langnau auch eine regelrechte Arbeiterkultur: Es gab zum Beispiel einen Arbeitermännerchor, einer Arbeiterturnverein, Arbeiterradfahrer oder Arbeiterschützen.

Aktives SP-Mitglied, Rechercheur, Dorfchronist

Martin Jäggi (1944?–?2023) war während seiner Zeit als Lehrer aktiv in der SP von Sumiswald. Dort war er ab Mitte der Neunzigerjahre auch acht Jahre lang Mitglied des Gemeinderates. Bereits in Sumiswald engagierte er sich für das dortige SP-Publikationsorgan. Nach dem Umzug nach Langnau verfolgte er dieses Interesse weiter. Während 14 Jahren schrieb er historische Artikel für das SP-Blatt «Links i.?E.». Für seine Texte tätigte er aufwändige Recherchen in verschiedenen Schweizer Archiven. Auch in der Langnauer Gemeindepolitik war Martin Jäggi aktiv und vertrat die SP ab 2010 während vier Jahre in der Planungskommission. Im vergangenen Oktober ist Martin Jäggi im Alter von knapp 79 Jahren gestorben.

25.04.2024 :: Regine Gerber (reg)