Perücke gegen unangenehme Blicke

Perücke gegen unangenehme Blicke
Claudia Brechbühl hilft einer Kundin bei der Auswahl einer passenden Perücke. / Bild: Regine Gerber (reg)
Langnau: Im Coiffure Piccolo gibt es mehr als modische Frisuren. Geschäftsführerin Claudia Brechbühl berät Krebsbetroffene in Sachen Perücken und Haarteile.

Die Türklingel ertönt, Simona Müller (Name geändert) betritt den Coiffeursalon. Geschäftsführerin Claudia Brechbühl umarmt ihre Kundin, mustert sie und ruft: «Deine Haare sind aber gewachsen!» Die Freude über die Haare, die leicht gewellt und kinnlang Simona Müllers Gesicht umrahmen, kommt nicht von ungefähr. Es ist noch nicht lange her, da war ihr Kopf kahl. Simona Müller hatte Brustkrebs und musste sich einer Chemotherapie unterziehen. Als Nebenwirkung – das hatte ihr der Onkologe gleich bei der Diagnose angekündigt – verlor sie ihre Haare. Dies führte sie ins Coiffeurgeschäft Piccolo. Claudia Brechbühl hat sich auf Perücken und Haarteile spezialisiert. Während im offenen Teil des Salons Frauen, Männer und Kinder modische Frisuren oder einen neuen Farbton erhalten, befindet man sich nebenan in einem separaten Raum in einer andere Welt: Hier lassen sich Menschen Zweithaare anpassen. Claudia Brechbühl berät die Betroffenen von Anfang an, bestellt verschiedene Perücken zur Anprobe, hilft bei der Auswahl. Anschliessend werden die Perücken angepasst und geschnitten. Die Expertin kann viel Wissen weitergeben, etwa, welches Innenteil sich am besten eignet, was man bei strapazierter Kopfhaut tun kann oder wie die Perücke in der Nacht gelagert werden soll. Sie übernimmt auch die Abrechnung mit der IV. Und manchmal tritt sie schon vorher auf den Plan – nämlich dann, wenn die Haare auszufallen begin-nen. Auf Wunsch schneidet Claudia Brechbühl den Kundinnen die Haare mit der Maschine kurz. «Das ist ein schwieriger Moment, den niemand allein durchmachen sollte», sagt sie.


Ohne Haare fühlt man sich nackt

So erlebte es auch Simona Müller. «Eigentlich dachte ich, dass der Haarverlust mir nicht viel ausmacht», erzählt sie. Sie habe überlegt, ob sie überhaupt eine Perücke brauche. Ein umsichtiger Arzt riet ihr, trotzdem Abklärungen zu treffen. Ein guter Rat, wie sich später herausstellte: Als Simona Müller das erste Haarbüschel in den Händen hielt, änderte sie ihre Meinung. «Es ist einschneidend, sich selbst ohne Haare zu sehen», sagt sie, «man fühlt sich nackt und ausgeliefert.»

Dass den Patientinnen bereits beim Arzt oder im Spital der Kontakt von Zweithaarspezialisten angegeben wird, hat seinen Grund. «Wenn ich die Personen noch vor dem Haarausfall sehe, ist es am einfachsten, eine naturgetreue Perücke zu finden», erklärt Claudia Brechbühl. Und Natürlichkeit sei das Ziel. Denn: «Eine Perücke ist für die Betroffenen ein Schutz, um sich im Alltag normal bewegen zu können und sich weniger Blicken und Fragen aussetzen zu müssen», sagt sie. Die Perücken, die preisbedingt meistens aus synthetischem Haar bestehen, würden so natürlich aussehen, dass man damit auf der Strasse nicht auffalle.


Der sichtbarste Teil der Krankheit

Claudia Brechbühl hat über die Jahre viel Erfahrung in diesem speziellen Bereich gesammelt. Bereits in ihrer Ausbildung kam sie mit Perücken in Berührung. Durch eine Verwandte, die unter Haarverlust litt und sie um Rat bat, setzte sie sich später intensiv mit dem Thema auseinander. Von da an fanden immer wieder betroffene Personen den Weg zu ihr. 

Vor zehn Jahren zügelte Claudia Brechbühl ihr Geschäft an die Alleestrasse 6 und hatte erstmals einen separaten Raum zur Verfügung. Sie baute ihr Angebot, das eine Nische in der Region bedient, aus. Heute berät Claudia Brechbühl rund eine Person pro Woche in Sachen Perücken und Haarteile. Die Arbeit mit den Chemopatientinnen liegt ihr am Herzen, weil sie weiss, wie wichtig Haare sind. «Deren Verlust ist der sichtbarste Teil der Krankheit», sagt sie. Als Simona Müllers Haare wieder zu spriessen begannen, meldete sie sich erneut im Coiffeur Piccolo. Denn: Die nachwachsenden Haare waren zwar ein Grund zur Freude – aber die Perücke hielt nicht mehr. Auch in dieser Übergangszeit habe sie hier Rat gefunden, erzählt sie. Und so kommt Simona Müller auch heute noch regelmässig vorbei. Nur nimmt sie jetzt nicht mehr im separaten Zimmer Platz, sondern auf einem der Coiffeurstühle im offenen Salon – dort, wo es nicht um Haarverlust und Krankheit geht, sondern um die neusten Frisuren- und Farbtrends.

Weltkrebstag

Am Sonntag, 4. Februar, war Weltkrebstag. Dieses Jahr hiess das Motto «Versorgungslücken schliessen». Auch in der Schweiz gebe es noch Lücken in der Krebsversorgung, schreibt die Krebsliga. Um sie zu schliessen, sei eine vorausschauende, nachhaltige und gut koordinierte Zusammenarbeit aller Beteiligten nötig. Kurz: Es brauche einen nationalen Krebsplan. Die Organisation fordert, dass alle Kantone Programme zur Früherkennung von Darm-, Brust- und Lungenkrebs einführen. Und auch bei Nachsorgeangeboten für Krebsüberlebende sei eine koordinierte Vorgehensweise dringend nötig.

08.02.2024 :: Regine Gerber (reg)