In den Fünfzigerjahren war dieses schnittige Postauto der Marke Saurer ein Hingucker. / Bild: zvg
Schangnau: Seit 100 Jahren fährt das Postauto von Wiggen ins Kemmeribodenbad
Heimelig tönt das Posthorn durch den Schangnauer Talboden, wenn der Chauffeur mit seinem gelben Gefährt die unübersichtliche Kurve am Kilcheggstutz anpeilt. Dieses Strassenstück wie auch das Fahrzeug, das 1925 den Betrieb aufnahm, sahen damals noch wesentlich anders aus, und die melodiöse Hupe, die jedes Kind kennt, kam wohl kaum zum Einsatz, denn motorisierter Gegenverkehr war nicht zu erwarten. Noch 1953 lehnten die Chauffeure die Verwendung des Posthorns ab. Die Eröffnung der Bahnlinie Langnau-Luzern im Jahr 1875 gab den Anstoss zur Einrichtung eines ersten Transportdienstes ins Schangnau; einmal täglich fuhr vom neuen Bahnhof Wiggen ein einspänniger Pferdewagen mit einfachem Wetterverdeck nach dem Dörflein am Fusse des Hohgant. Nach und nach wurde das Angebot erweitert, der Reisewagen grösser und komfortabler. 1904 schaffte man die Kutsche an, die seit Kurzem - frisch restauriert - wieder ins Schangnau zurückgekehrt ist. Die damalige Wirtin im Kemmeribodenbad, Elisabeth Gerber, brachte es zustande, dass die Kutscher ab diesem Jahr bis vor ihr Kurhaus hinten im Talgrund fuhren. Die initiative Wirtin wagte es 20 Jahre später, auf eigene Kosten die Pferdekutsche durch ein Auto zu ersetzen. Mit diesem holte ein angeheuerter Chauffeur die Hotelgäste im Schangnau ab.
Unterwegs mit dem Studebaker
Am 1. Mai 1925 wurde auch die Strecke Wiggen-Schangnau auf Autobetrieb umgestellt. Die Fahrzeit verkürzte sich um eine ganze Stunde auf 40 Minuten. Das Auto - ein sechsplätziger Studebaker Packard - wurde von sechs einheimischen Familien finanziert, jede zahlte einen Beitrag von 1666.60 Franken. Die Familie Gerber vom Kemmeribodenbad übernahm auch diesen Kurs und wurde dafür von der Post entschädigt. Im Winter kam aber weiterhin die Pferdepost zum Einsatz, je nach Witterung auch der Pferdeschlitten. Bis heute engagieren sich die Nachkommen der Gründerfamilien für das Unternehmen, zum Teil in mehreren Funktionen. Matthias Gfeller, Landwirt in der Schönisey, beispielsweise ist nicht nur Verwaltungsratspräsident der Autoverkehr Schangnau-Kemmeribodenbad AG, sondern gleichzeitig einer der Teilzeit-Chauffeure. «Mein Urgrossvater war familiär mit dem Kemmeriboden verbunden, auch hatte er in jenen Jahren grosse Ländereien hinter der Bockenschlucht erworben. Er hatte ein Interesse an der Sache.» Auch Walter Bieri, der das Material für die Jubiläumsbroschüre zusammengetragen hat, ist seit vielen Jahren Chauffeur auf der Strecke: «Ich staune, dass meine Urgrosseltern den Mut hatten hier einzusteigen.» Der letzte Posthalter von Schangnau, Walter Riesen, ist seit der Schliessung der Poststelle Geschäftsführer der Autoverkehr AG. Auch er ist mehrheitlich hinter dem Steuer anzutreffen. Mit ihm, dem erklärten Computerfreak, hat die Digitalisierung Einzug gehalten. «Tablet und Handy sind heute die täglichen Begleiter der Chauffeure. Jeder muss sich bei Dienstantritt elektronisch anmelden. Tut er das trotz zweimaliger Mahnung nicht, geht bei mir der Alarm los, und ich muss handeln. Das kommt aber selten vor.»
Wenn die Schweizerfahne weht
Aber auch die althergebrachten Methoden sind nicht ausgestorben. «Wenn bei der Bäckerei im Stein die Schweizerfahne eingesteckt ist, weiss der Chauffeur, dass er Meränggen in den Kemmeriboden mitnehmen muss», schmunzelt Walter Bieri. «Und beim Gasthof Wald war es früher noch ausgeklügelter: Hing die Luzernerfahne, hatten wir auf der Hinfahrt zu stoppen, bei der Bernerfahne auf der Heimfahrt.» Die heutige Flotte ist beeindruckend; die Fahrzeuge standen an der Jubiläumsfeier - soweit man sie entbehren konnte - aufgereiht vor dem Hotel Kemmeribodenbad: vier Postautos Marke Volvo, ein Reisebus, vor allem für Schülertransporte, und ein Reisecar mit 51 Sitzplätzen für Gesellschaftsreisen und Vereinsausflüge. «Das nächste Fahrzeug, das wir anschaffen, wird wohl ein elektrisch betriebenes sein. Unsere Strecke eignet sich dafür sehr gut», verrät Matthias Gfeller. Nicht zu vergessen die alte, auferstandene Postkutsche. Sie wird von einem eigenen Verein bewirtschaftet und kann - samt Kutscher und «Postdiener» - für private Anlässe gemietet werden.
Fast 200'000 Passagiere
In der Jubiläumsbroschüre findet man auch allerlei Zahlen: 1925 wurden 3157 Fahrgäste transportiert, viele von ihnen Kurgäste vom Kemmeribodenbad. 2024 waren es 199'740 Passagiere. Die vier Postautos legten dabei rund 309'000 Kilometer zurück. Ein spezieller Kurs ist der Nachtstern am Wochenende. «Früher holten wir die Nachtschwärmer in Luzern ab. Jetzt bringen sie andere Kurse bis nach Wolhusen.» Seit zwei Jahren betreibt das Unternehmen zusammen mit der STI Bus AG (Steffisburg-Thun-Interlaken) an Wochenenden die Schallenberg-Linie, eine Verbindung von Escholzmatt nach Thun. «Die Passagierzahlen übertreffen unsere Erwartungen. Sie lassen uns hoffen, dass der Kurs irgendwann definitiv eingeführt wird.» Und dort wird der Chauffeur sicher das Posthorn erklingen lassen.