So sahen Kinder die Welt vor 80 Jahren

So sahen Kinder die Welt vor 80 Jahren
Theresia aus der 9. Klasse schrieb über einen Alpaufzug und illustrierte den Aufsatz mit einer schönen Zeichnung. / Bild: zvg
Ranflüh: Wiederentdeckte Schüleraufsätze aus den 1940-er Jahren spiegeln die damalige Zeit aus der Wahrnehmung von Kindern. Die «Wochen-Zeitung» veröffentlicht einige Werke.

Eine Sammlung von nahezu hundert Schüleraufsätzen, geschrieben auf liniertes Papier und zusammengefasst in einem gebundenen Buch, steht auf dem Bücherregal von Samuel Hebeisen. Er wohnt im Altersheim Dänd­likerhaus in Ranflüh. Das Buch entstand ganz in seiner Nähe, im Schulhaus Ranflüh. Der Lehrer Max Frutiger habe eine Auswahl an guten Aufsätzen zusammengetragen, weiss Hebeisen. «Dass die Aufsätze noch vorhanden sind, ist nicht selbstverständlich», sagt der 86-Jährige. Bei einer Estrichräumung habe ein Lehrer das Buch weggeworfen. «Glücklicherweise wurde es von der Unterschullehrerin Vroni Baumgartner im Container entdeckt und sie konnte die Sammlung retten», berichtet Samuel Hebeisen. Einige der Aufsätze seien interessante Zeitzeugen aus den Kriegsjahren, sagt er. Dieses Buch gehöre der Oberschule Ranflüh, derzeit bewahre er es auf. An mancher Klassenzusammenkunft habe er den einen oder anderen Aufsatz daraus vorgelesen, sagt er. «Eine Einlage, die bei den Klassenkameradinnen und -kameraden stets gut angekommen ist.» «Wenn ich reich wäre», «Die Trockenheit», «Ein Sonntagsausflug»: Das sind Überschriften von Aufsätzen, wie sie Schülerinnen und Schüler auch heute setzen könnten. Titel wie «Alles ist rationiert», «Das Ende der Zollbrücke», «1945 bis 1946 – in grosser Angst» verraten, dass die Texte in einer anderen Zeit geschrieben wurden. Doch unabhängig vom Thema lassen die Aufsätze in die Welt der Kinder vor 80 Jahren blicken.


jhk.


Alles ist rationiert

Heute stehen wir in der Zeit der Rationierung. Die Ursache davon ist der schreckliche Krieg. Weil das Ausland die Nahrungsmittel selber braucht, muss alles gleichmässig verteilt werden. Nicht nur mit den Nahrungsmitteln ist es so, auch mit den Stoffen und Schuhen. Geht man zum Krämer, so werden zuerst die Karten verlangt. Die sind bald wichtiger als das Geld. Hunger leiden muss niemand, die Rationen sind ziemlich gross. Und doch muss man sagen, wie alles gut eingerichtet ist. Alles das gibt der Obrig­keit eine ungeheure Arbeit. Über diese Einrichtung sollen wir nicht schimpfen, sondern dankbar sein. Aber es sind gleichwohl nicht alle Leute zufrieden. Oft hört man über zu wenig Fett und Zucker klagen. Doch das fruchtreiche Jahr füllt viele Lücken aus. Es hat ja so schön Getreide und viele Kartoffeln und Obst gegeben. Der Gemüsegarten spendet reichen Segen. Vieles kann noch für den Winter aufbewahrt werden. Hoffentlich geht der Krieg bald zu Ende.


Anni, 6. Klasse


Hochwasser

Es war ein stürmischer Abend, die Uhr an der Wand schlug die zehnte Stunde, wir hatten uns schon zur Ruhe begeben. Plötzlich wurden wir durch das Klingeln des Telephons wach gerüttelt. Als ich vollauf wach war, sagte der Vater: «Peter, stehe sofort auf!
Die Emme bringt einen Anschuss wie es die Menschheit schon lange nie mehr erlebt hat!» In einem Augenblick war ich bereit mit dem Vater zu gehen, auch die Mutter wollte dem Schauspiel beiwohnen. Wir stunden nun draussen am Ufer der Emme, die noch ganz bescheiden durch ihr Bett tänzelte und niemand hätte geglaubt, dass dieses schöne Wässerchen bald zu einem gewaltigen unheilanrichtenden Strom anwachsen würde. Auf einmal hörten wir ein Tosen dumpf und unheimlich. Da kam nun das hoch­gehende Wasser; es stieg sobald es da war über die Mauer hinauf. Als der Anschuss vorüber war, befahl mir der Vater: «Geh sofort nach Ramsei und hole die Stations-Lampe, dann komme durch das Geleise hinauf. Ich gehe jetzt telephonieren, dann komme ich dir entgegen.» Wir mussten noch wachen bis der letzte Zug vorüber war. Am Morgen begleitete ich den Vater vor dem ersten Zug, um noch zu schauen, ob das Wasser etwas weggerissen habe. Aber glücklicherweise war alles in Ordnung. 


Peter, 9. Klasse


Am Herbstmärit

Heuer ging ich auch auf den «Märit», er war in Langnau. Ich freue mich jedesmal darauf. Hans und ich fuhren mit dem Velo. Als wir in Langnau ankamen, waren schon viele Leute hier. Wir gingen zum billigen Jakob, dort standen auch viele Leute. Er verkaufte ein oder zwei paar Hosenträger für 9 Fr. Wir gingen weiter. Da war ein Stand mit gestickten Decken; einer stickte gerade, wir schauten zu. Beim Löwen stand eine Frau, sie rief immer «gueti Haselnussstengeli». Auf der andern Seite sass ein Orgelmann, er hielt einen Hut hin, dort konnte man Geld dreinlegen. Bei einem andern Stand rief ein Mann immer: «Gute Ware, billig, billig!» Die Strassen waren voller Leute, man konnte fast nicht gehen. Beim Bären oben sass ein Mann und spielte mit einer Handharmonika, er wollte die Leute anlocken. Auf einmal sah ich die Grossmutter, sie gab mir noch 50 Rp. Ich kaufte ein Säcklein Magenbrot. Als es 3 Uhr war, gingen wir wieder heim. 


Hanni, 5. Klasse


Wenn ich reich wäre

«Wenn ich reich wäre», das ist so eine artige Überschrift, das soll bedeuten, wenn ich einen grossen Haufen Geld hätte. Wenn ich das wäre, so würde ich zuerst einen grossen Bauernhof kaufen mit ungefähr hundert Kühen, achtzig Rindern, zwei bis drei Stieren, noch zwanzig Pferden. Ich wollte auch vier bis fünf Traktoren mit denen man auch mähen könnte, und auch zwei Grunder Maschinen mit denen man mähen, schleppen, pflügen, seilen, spritzen und fräsen könnte. Dagegen kaufte ich noch fünf Motormäher, mit denen man Kartoffeln graben könnte. Ich würde recht viele Kartoffeln setzen, damit ich viele verkaufen könnte. Das würde ein Betrieb sein! Ich würde den Knechten vielen Lohn geben, das würde mich dann nicht reuen, wenn ich so in einem Überfluss von Geld wäre. Im Herbst ginge ich auf die Jagd. Ich hätte so viele Knechte und Mägde, dass sie nicht viel arbeiten müssten, dann hätte ich noch eine reiche Frau. Am Sonntag nähme ich das schönste Pferd und spannte es an eine schöne saubere Kutsche. Ich hätte aber auch ein Auto und ein Motorrad. Den Knechten würde ich ein Motorrad kaufen und den Mägden auch. Ich nähme die armen Leute zu mir und machte sie reich und fett. Und meine Kinder lehrte ich schon jung dragonern und motorradfahren. Das wäre schön, wenn es so wäre.


Samuel, 5. Klasse


Das Ende der Zollbrücke

An einem heissen Ernteabend legte ich mich müde zu Bette. Ich war sehr froh, dass es endlich Abend geworden war und ich mich in das weiche Bett begeben durfte. Lustige Träume umgaukelten meine Sinne. Da plötzlich, wie ein Mörder mich ergriffe, war das Gefühl. Ich schoss auf im Bette. Schlaftrunken legte ich mich wieder nieder. Nun aber richtete ich mich und lauschte deutlicher. Heiss und kalt lief mir das Blut durch die Adern. Da erkannte ich es, es war das Feuerhorn. Schnell sprang ich aus dem Bette, schlüpfte in die Hosen und sprang ans Fenster. Der kühle Nachtwind strich durch mein offenes Hemd. Ich schaute mich um wo es brenne. Da plötzlich stieg in Zollbrück ein dicker, in der Nacht weiss leuchtender Rauch auf. Dem Rauche nach folgten die frechen züngelnden Flammen. «Die Brandsäge», sagte ich mit bebenden Lippen. Lange schaute ich den hochauflodernden Flammen zu. Immer noch heulte das Feuerhorn. Schon hörte ich die Motorspritzen surren, die dem wilden, prasselnden Feuer wehrten. In hohen Bogen brausten die Wasserstrahlen in das Feuer. Da plötzlich krachte es. «Jetzt ist das Haus eingestürzt», dachte ich. Am anderen Tage vernahm ich, dass die schöne sehenswürdige Zollbrücke ein Raub der Flammen wurde.


Daniel, 7. Klasse


Frohe Stunden

Bravo, heute darf ich wieder einmal heim. Ja, es ist wirklich eine Lust, bei so prächtigem Sonnenschein über Berg und Tal zu wandern. Mein Weg führte mich durch einen langen Tannenwald. Vom Wandern müde geworden, kam ich endlich daheim an. O, wie freute ich mich, dass ich wieder einmal für ein paar Tage daheim sein durfte. Was gab es da nicht alles zu schauen und zu beobachten. Zuerst zog es mich in den Schweinestall. Und siehe da, wie lustig! Etwa ein Dutzend kleine Ferkelchen lagen um die alte Gluntsche herum und brüllten wie die wilden Löwen. Da musste ich noch lange staunen, bevor ich wieder hinaus konnte. Als zweitens besuchte ich den Kuhstall. Oh, wie lagen doch alle Kühe so friedlich nebeneinander. Jede drehte den Kopf auf die Seite und schaute mich an. Ja ja, ihr guten alten Kühe, ihr kennt mich wohl noch. Und damit tätschelte ich einer jeden den Hals. Und welch ein Wunder, eine jede konnte mich nicht genug lecken aus Dankbarkeit. Danach nahm ich Abschied von den Kühen und schon wieder atmete ich frische Luft ein. Ich setzte mich aufs Stallbänklein um zu ruhen. Doch da kam schon ein Störefried, eh, es war ja meine Schwester Friedi. Sie konnte der Freude nicht genug Ausdruck geben, dass ich da war, um mit ihr lustig zu sein.


Helen, 8. Klasse


Erlebtes

In Ostpreussen bin ich geboren. Dort habe ich bis zum 22. Januar 1945 eine glückliche Kinderzeit verlebt. Dann wurde plötzlich unsere Heimat am 23. Januar vom Russen überfallen. Wir erlebten eine furchtbare Zeit. Wir flüchteten nicht, sondern blieben immer in der Kampflinie drin. Wir hatten keinen Schutzkeller, wir suchten Schutz vor den feindlichen Kugeln in Wohnhäusern, auf den Feldern und in tiefen Gräben. Dann wurde 1946 im Sommer unsere Heimat vom Polen besetzt. Wir haben noch viel Schrecklicheres erlebt. Wir mussten sehr schwer arbeiten und litten grosse Not, weil uns der Pole das Letzte wegnahm. Im August 1947 brachte uns der Pole nach Allenstein in ein Arbeitslager; dort mussten wir mit den Deutschen Aufräumungsarbeit leisten. Nach 9 Monaten holte uns die Schweizerische Gesandtschaft von dort fort auf ein Schweizer Grundstück. Hier arbeiteten wir bis zum 28. Mai 1949. Dann wurden wir mit einem Transport ins Quarantänelager Rheinfelden mitgenommen. Die Fahrt bis Rheinfelden war sehr schön. Im Quarantänelager sind wir 10 Wochen gewesen. Dort haben wir auch eine schöne Zeit verlebt. Dicht an unserm Lager floss der Rhein, es war ein wunderschöner Anblick


Ruth


Scherben bringen Glück

Oft sagt man «Scherben bringen Glück»! Einmal kam das Glück auch zu mir. Ein prächtiger Sonntag ging zur Neige. Am Nachmittag war meine Tante Elise auf Besuch gekommen. Da gab es natürlich etwas Feines zu Schmausen. Meine Mutter hatte extra eine Torte gebacken, welche wir alle mit gutem Appetit verzehrten. Am Abend hiess es: «So Martha, du kannst noch das Geschirr reinigen, aber pass auf, dass du keine Scherben machst!» «Ne, nei!», gab ich zur Antwort. Flink nahm ich warmes Wasser und fing an abzuwaschen. Fast wollte es mir gruseln, als ich den grossen Haufen Geschirr sah. Nun kam mir eine Tortenplatte in die Hände. «So, jetzt geht es dir an den Kragen», dachte ich. Plötzlich durchzuckte mich der Gedanke, «wenn ich diese jetzt fallen liesse!» «Trr», plötzlich schrillte das Telephon, und – o weh – alles, was ich in den Händen hatte, liess ich auf den Küchenboden fallen. «Scherben bringen Glück», rief ich. Als ich schaute, waren von der Tortenplatte nur noch Scherben da. Da dachte ich, wenn doch das Sprichwort nur wahr würde! Noch am gleichen Abend kam mein Götti zu uns und brachte mir ein Paar neue Schuhe. Die Mutter schimpfte tüchtig mit mir. An allem war aber das dumme Telephon schuld, welches mich so sehr erschreckt hatte.


Martha, 9. Klasse


Eine rassige Skitour

Der Himmel war von Schneewolken verhängt. Im Gänsemarsch zogen wir mit den Skiern Emmenmatt zu. Wir hatten nämlich im Sinn von Emmenmatt nach Bowil mit der Eisenbahn zu fahren. In Bowil zogen wir die Ski an und begaben uns auf die Strecke Bowil–Chuderhüsi. «Chuderhüsi» war nämlich unser Ziel. Überall stunden Wegweiser. Dort hiess es: «Chuder-hüsi 1½ Std». Am Fusse der «Alp» schnallten wir die Ski ab. Wir nahmen  die Ski auf die Achseln und stiegen bergauf. Es war ein wunderschöner Anblick die wohltuende Wintersonne und der glitzerige Schnee. Nach stundenlangem Aufstieg machten wir ein wenig Halt. Es ging aber nicht lange und wir waren wieder auf dem Wege. Im «Chuderhüsi» angelangt, konnten wir gleich im Gasthause essen. Das Essen schmeckte allen sehr gut. Aber die Hauptsache war uns das Skifahren. Wir übten drauflos. Der Schnee wurde klebrig, dann war es natürlich nicht mehr so günstig. Der Lehrer führte uns an die Gauchern-Seite. Hier war sehr viel Pulverschnee. Wir machten Skiübungen. Leider konnten wir nicht immer dort bleiben. Die Abfahrt war fast das Schönste. Wo wir mühsam hinaufgestiegen, konnten wir jetzt mühelos hinunterfahren. Daheim aber erzählten wir von dem schönen Tag. Ich sagte der Mutter: «Nächstes Jahr will ich wieder gehen.»


Leni, 9. Klasse 

01.02.2024 :: zvg