Kenny Nett strebte immer nach Selbstständigkeit. / Bild: Regine Gerber (reg)
«Verdingt – versorgt» (6/6): Auch heute müssen Kinder manchmal fremdplatziert werden. Das Jugendhilfe-Netzwerk Integration bietet langfristige Plätze bei Pflegefamilien an. Auch wenn es gut läuft, ist der Übergang ins selbstständige Leben später nicht einfach – so wie bei Kenny Nett.
Fast drei Stunden dauerte die Fahrt ins neue Leben. Kenny Nett erinnert sich noch gut daran, wie schleichend langsam die Zeit vor 15 Jahren im Auto verging, nachdem ihn der damalige Leiter des Eggiwiler Jugendhilfe-Netzwerks Integration abgeholt hatte. Als er dann vom anderen Ende der Schweiz endlich im Entlebuch angekommen war, wollte er möglichst schnell den Bauernhof seiner Pflegefamilie sehen. «Ich war gespannt, vor allem auf die Tiere», erzählt er. Dass er dort elf Jahre bleiben würde, konnte der damals Siebenjährige noch nicht wissen.
Bei Kenny Nett fand eine Notfallplatzierung statt. Diese kann innert kürzester Zeit angeordnet werden, wenn das Kindswohl akut gefährdet ist. Für umfassende Abklärungen und eine sorgfältige Eingewöhnung, wie es sich das Jugendhilfe-Netzwerk Integration eigentlich auf die Fahne schreibt (siehe Kasten), blieb keine Zeit.
Kenny Nett hat die Bilder seiner frühen Kindheit, die er beim Vater verbrachte, noch im Kopf. Es sind keine guten; solche, die der 22-Jährige lieber nicht heraufbeschwören möchte. Gewalt, Vernachlässigung, Unterernährung prägten seine ersten Lebensjahre. Es ging lange, bis die Behörden reagierten, obwohl sie auf den Zustand des Jungen aufmerksam gemacht wurden, wie sich später herausstellte.
Vorwärtsschauen
Seine Geschichte erzählt Kenny Nett in einem der Gebäude des Jugendhilfe-Netzwerks Integration in Eggiwil. Hier ging er zeitweise in die interne Tagesschule, hier sind seine Wegbegleiter, die ihm bis heute wichtig sind, hier fühlt er sich wohl. Der junge Mann mit wachem Blick und zurückhaltendem Lächeln will vorwärtsschauen: «Es bringt nichts, zu grübeln, man muss das Beste daraus machen.»
Auch wenn Krisen nicht ausblieben, für Kenny Nett lief es gut in der Pflegefamilie. «Mir gefiel es sofort», sagt er. Die Pflegeeltern und -geschwister gaben ihm, was er vorher nicht bekommen hatte: «Geborgenheit, Sicherheit.» Der Junge genoss es, bei den Tieren im Stall zu sein, die Hofarbeiten waren hingegen nicht sein Fall. Lieber spielte er Fussball. «Es wurde zum Glück nicht erwartet, dass ich viel mithelfe», erzählt er.
Dem Pflegekind stand es immer frei, den Kontakt zu seinen Eltern aufrechtzuhalten. Seine Betreuer ermunterten ihn von Zeit zu Zeit dazu. «Anfangs hatte ich noch Kontakt zu meinem Vater. Irgendwann musste ich mir aber eingestehen, dass es nichts bringt.»
Als Jugendlicher half Kenny Nett häufig in einer nahegelegenen Sägerei. Dort absolvierte er, dem der Schulstoff schwerfiel, schliesslich eine praktische Ausbildung (PrA). Sein Chef schätzte seine Pünktlichkeit, Arbeit und seinen Ehrgeiz.
Hohe Hürden beim Erwachsenwerden
Inzwischen war Kenny Nett 18 geworden. Mit diesem Tag endeten alle Massnahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Für den jungen Mann, der für unterstützende berufliche Massnahmen eine IV-Rente bezog, übernahm stattdessen die IV die Wohnkosten. Daher musste eine von der IV anerkannte Wohnmöglichkeit gefunden werden. Und die gewohnte enge Begleitung durch die Betreuenden im Jugendhilfe-Netzwerk Integration fiel weg – Kenny Nett fühlte sich überfordert.
So wie ihm geht es vielen «Care Leaver». So werden junge Erwachsene genannt, die in einem Heim oder in einer Pflegefamilie aufwachsen und mit dem Erreichen der Volljährigkeit plötzlich alleine dastehen. «Auch für Jugendliche ohne Fremdplatzierungsgeschichte ist Erwachsenwerden nicht immer einfach», sagt Sam Brechbühl, Leiter des Jugendhilfe-Netzwerks. «Für unsere Jugendlichen ist es aber oft ein Hürdenlauf.» Manche verlören Bezugspersonen, gleichzeitig trete die eigene Familiengeschichte nicht selten wieder in den Vordergrund. Der schwere Start ins Leben wirke lange nach, meistens seien die Jugendlichen in Verzug mit der Ausbildung und hätten noch keinen Abschluss. Oft führe dies zu prekären Verhältnissen.
Das Bewusstsein für die Hürden bei diesem Übergang wächst langsam. Einige Kantone haben ihre Gesetze unterdessen so angepasst, dass auch junge Erwachsene weiter unterstützt werden können. Im Kanton Bern kann zum Beispiel seit Kurzem eine ambulante Nachbetreuung nach einer stationären Platzierung finanziert werden.
Suche nach dem Platz in der Gesellschaft
Kenny Nett konnte von solchen Leistungen noch nicht profitieren. Er hielt aber die Beziehung zu seiner Pflegefamilie und zu seinen Betreuenden aufrecht. Sie unterstützen ihn ehrenamtlich weiter. Ausserdem stellte er einen Antrag auf eine Beistandschaft durch eine ihm bekannte Person.
Die Situation blieb trotzdem schwierig. Auf der Suche nach der passenden Wohnform kam Kenny Nett in eine betreute Wohngruppe. Dort lebte er zusammen mit jungen Erwachsenen mit Mehrfachbehinderungen. Während die anderen Bewohnenden in internen Arbeitsprogrammen beschäftig waren, absolvierte er ein Holzbaupraktikum in einem externen Betrieb. Die Struktur der IV-Einrichtung passte nicht zu ihm und seiner Lebenssituation. «Ich wurde immer unzufriedener», erzählt Kenny Nett. Eine andere Wohnlösung zu unterstützen, war von der IV aber nicht vorgesehen. Kenny Nett, der wie alle jungen Erwachsenen nach Selbstständigkeit strebt, fühlte sich dem System ausgeliefert. «Ich war ohnmächtig», sagt er.
Wie schon oft zuvor in seinem Leben gab er nicht auf und suchte nach einer Lösung. Schliesslich fand er sie mit Hilfe des Eggiwiler Jugendhilfe-Netzwerkes Integration. Es verschaffte ihm eine vorübergehende Wohnmöglichkeit – zum ersten Mal allein. Kenny Nett kam zur Ruhe, wurde selbstständiger und arbeitete. Als er die bereits zugesicherte EBA-Lehre in einer Holzbaufirma betriebsbedingt doch nicht antreten konnte, orientiere er sich um. Er fand eine feste Stelle als Küchenangestellter in einem Restaurant. Das Blatt wendete sich: Er kann nun seinen Lebensunterhalt selbstständig finanzieren. Er zog in ein Studio. Und kürzlich stellte er erfolgreich den Antrag, seine Beistandschaft wieder aufzulösen. Kenny Nett steht nun auf eigenen Beinen. «Ich habe immer an mich geglaubt», sagt er.