Furchen fürs Leben gezogen

Furchen fürs Leben gezogen
Wie der Bub auf dem Bild lernte auch Hansueli an­zupacken, so etwa beim Pflügen. / Bild: zvg
«Verdingt – versorgt» (5/6): Vielen Kindern, die fremd­platziert wurden, erging es schlecht. Aber nicht allen. Zum Beispiel Hansueli*. Er denkt gerne an diese Zeit zurück.

«Ich war gerne dort. Es war schön», meint der über 80-jährige Mann rückblickend. «Klar, der Fritz hat mich schon auch mal am Haar gezogen», fügt er an und schmunzelt. «Aber euch beide auch.» Mit «euch beide» sind zwei Töchter der Bauernfamilie gemeint, bei der Hansueli ab seinem elften Altersjahr gelebt hat. Bei dem Treffen der dreien werden sofort alte Geschichten erzählt. «Dem Lehrer haben wir mal die Vespa in die Linde beim Schulhaus raufgehängt», berichtet er und lacht. «Weisst du noch, als dir das Ross weggelaufen ist?», sagt eine der Frauen. Und die andere: «Und wie wir im Winter mit dem grossen Schlitten bis runter ins Tal gefahren sind. Damals hatten wir noch andere Winter.» Und immer wieder ist zu hören: «Das waren noch Zeiten.»


Neuer Platz dank Tuberkulose

Hansueli war das älteste von fünf Kindern einer Arbeiterfamilie. «Es fehlte daheim oft an Geld», erzählt er. Und wenn der Vater seinen Lohn erhielt, musste er zuerst in den Wirtshäusern vorbei, um zu zahlen, was er zuvor anschreiben liess. Und dort blieb er dann auch oft sitzen. Als Hansueli achtjährig ist, beschliessen die Behörden, dass der Bub an einem anderen Ort leben soll. Wie das für ihn war, will er nicht erzählen. «Das war halt so.» Er kommt auf einen Hof im Emmental. «Dort war es gar nicht gut. Ich war immer für alles schuld und bekam dementsprechend oft auf den ‹Gring›.» Hansuelis Rettung waren sein frohes Gemüt und die Krankheit Tuberkulose. Weil er an dieser erkrankte, musste er zur Kur. Und danach nahm sich die Vormundschaftsbehörde erneut seiner an. Es war nämlich durchgesickert, dass es der Bub auf dem Hof nicht gut hatte. Dann kam er zu einer anderen Familie, der von Fritz, welcher selber der Vormundschaftsbehörde angehörte. Er war in dieser Familie nicht der erste und nicht der letzte Pflegbub. Überhaupt waren in dem Bauerndorf bei fast allen Familien «fremde» Buben und Mädchen einquartiert. So war Hansueli in der Schule auch nicht der einzige in dieser Situation. Er lernte rasch und war ein guter Schüler.


Misten und Kühe putzen vor der Schule

Daneben gab es viel Arbeit. «Das war damals einfach so. Auch die eigenen Kinder mussten viel ‹wärche›.» Morgens musste er den Mist auflegen im Kuhstall und dann die Kühe und die beiden Pferde putzen. «Ich hatte es gut mit dem Fritz», berichtet er. «Wenn man die Arbeit gemacht hatte, konnte man gehen.» In besonders guter Erinnerung ist ihm das Essen. «Mutter konnte sehr gut kochen», berichtet Hansueli. «Und es gab immer genug.» Sie sei eine ruhige Person gewesen, die ein offenes Ohr für die Kinder hatte – eigene wie fremde. In Acht nehmen mussten sich die Kinder zuweilen vom impulsiven Grossvater. «Wenn är gstüngelet het, isch aube nid guet gsy», ist den dreien in Erinnerung geblieben.


«So, itz du»

Er habe auch viel gelernt, erinnert sich Hansueli. «Im Winter bin ich jeweils mit Fritz im Wald holzen gegangen.» Er habe einen Rucksack geschultert, darin seien Beile, Keile und Scheidweggen verstaut gewesen; Fritz habe die Waldsäge getragen. Ein Ross hätten sie erst mitgenommen, nachdem die Tanne gefällt und geastet war. Den Umgang mit den Pferden hat der Bub von Grund auf gelernt. Früh galt es Verantwortung zu übernehmen. So etwa beim Pflügen. «Oben am steilen Bord hat der Fritz angefangen ‹z´Acher-fahre›. Ich musste mit, um zu helfen. Nach den ersten Furchen drückte er mir die Leitseile in die Hand und meinte: ‹So, itz du.›» So zog der Bursche auf dem Acker seine ersten Furchen. Den Pflug von Hand auszuheben, zu wenden und dabei die drei Pferde zu dirigieren, war streng. «Wenn die Pferde vorne angekommen zu früh abdrehten, war die Furche krumm und das war nicht gut», erinnert er sich. Die meisten Furchen waren wohl gerade und die Familie, bei welcher der Jüngling heranreifte, zufrieden mit ihrem Pflegbub. Als das letzte Schuljahr dem Ende zuging, durfte er zu einer Schneiderin. «Dort erhielt ich für die Konfirmation einen neuen Anzug. Das war für mich unglaublich. Noch heute bin ich dafür dankbar.» Dankbar war Hansueli auch, dass er nach der Schule eine Lehre als Schmied machen konnte. Er bildete sich an der Abendschule weiter, machte die Lastwagenprüfung und war im Militär als «Motfahrer» unterwegs. Bei den Transportunternehmen hatte er bald einen guten Ruf. Er sagte auch bei ungeliebten Aufträgen nicht Nein. Das kam bei den Arbeitgebern gut an.


Seit 60 Jahren gemeinsam unterwegs

An einem Fest lernte der gesellige Bursche seine Leni kennen. Als er 23 und sie 21 waren, heiraten die beiden. Bald galt es für Hansueli, eine Familie zu ernähren. Er arbeitete zeitweise auch als Fernfahrer und seine Frau kümmerte sich daheim um Haushalt und Kinder. Noch heute ist Hansueli stolz, dass es gelungen ist, ein eigenes Heim zu erwerben und dieses umfassend zu sanieren. Natürlich packte auch das Paar und die Kinder bei den Bauarbeiten an. Noch heute leben die beiden Rentner darin. Nicht nur mit seiner Pflegefamilie blieb Hansueli in Kontakt sondern auch mit seinen leiblichen Eltern, so lange sie lebten. Mit seinen Geschwistern verkehrt er bis heute. Die eigene Familie mit den vier Kindern, dem Dutzend Enkeln und zwei Urenkeln bedeutet Hansueli und Leni alles. Vor kurzem konnten sie die Diamantene Hochzeit feiern. Im Wohnzimmer hängt ein Stammbaum, der ein Grosskind gestaltet hat. Leni und Hansueli bilden den Stamm aus dem grosse Äste und immer kleinere wachsen.

18.01.2024 :: Bruno Zürcher (zue)