Das Gleichnis des barmherzigen Samariters war schon damals auf Kirchenfenstern zu sehen. Von Nächstenliebe aber spürten Verding- und Heimkindern oft nichts. / Bild: zvg
«Verdingt – versorgt» (4/6): Bei Fremdplatzierungen ging es darum, die Kinder «zu guten Christen» zu erziehen, nötigenfalls auch mit Gewalt. In der Kirche beten und zuhause die Kinder schlagen – wie geht das zusammen?
In vielen Erlebnisberichten von ehemaligen Heim- und Verdingkindern werden ihre Peiniger als «gläubig» und «fromm» bezeichnet. Da heisst es etwa: «Die Bauersleute beteten in der Kirche und schlugen die Kinder zuhause ab.» Auch an christlichen Festen gab es für die Kinder nichts zu feiern: «Am Weihnachtsabend wurde ich wie immer hungrig ins kalte Tenn eingesperrt. Der Heiland war in einem warmen Stall von Tieren und von Menschen umgeben. Ich jedoch war auch an Weihnachten alleine.» In vielen Biografien spielt auch der Dorfpfarrer eine Rolle. Manchmal eine positive, häufig aber wird er als einer beschrieben, der wegschaute, schwieg, «sich nicht für das Schicksal von uns Kindern interessierte».
Simon Hofstetter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Universität Bern sowie Leiter Kirchenbeziehungen bei der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Er ist Autor des Buches «Heim- und Verdingkinder: Die Rolle der reformierten Kirchen im 19. und 20. Jahrhundert».
Herr Hofstetter, wie tief steckte die reformierte Kirche mit drin beim Verdingen von Kindern?
Das ist noch nicht restlos aufgearbeitet. Aber nach aktuellem Forschungsstand lässt sich sagen, dass die Kirche als Institution keine Funktion innehatte. Wohl aber die Dorfpfarrer. Sie gehörten, wie auch der Gemeindepräsident oder der Lehrer, oft den lokalen Vormundschafts- und Armenbehörden an, die für die Fremdplatzierungen zuständig waren. Das Armenwesen war von Dorf zu Dorf unterschiedlich organisiert. Es gab keine Standards, wie die Kinder betreut oder die Pflegefamilien überprüft werden.
Wie wir heute aus vielen Berichten wissen, wurde denn auch selten wirklich hingeschaut. Auch nicht vom Pfarrer.
Es gab Pfarrer, die bei Missständen eingegriffen und ein Kind auch mal umplatziert haben. Zu oft aber schwiegen sie. Da mag Angst ein Grund gewesen sein. Nicht selten waren die Bauern, die ein Verdingkind aufnahmen, reich und angesehen. Auch waren die Pfarrer für diese Aufgabe nicht ausgebildet. Nicht vergessen darf man zudem, dass ein ganz anderes gesellschaftliches Klima herrschte als heute.
Was meinen Sie damit?
Ein Kind musste man durchfüttern und wurde in erster Linie als ökonomische Last angesehen. Ein Verdingkind noch viel mehr. Es erhielt Kost und Logis und musste dafür seine Arbeitskraft einsetzen. Verdingkinder galten als Kinder zweiten Ranges. Sie mussten mehr arbeiten und erhielten weniger Nahrung als der eigene Nachwuchs, durften nicht am Tisch essen oder im Gaden bei den anderen schlafen. In der Schule wurden sie vom Lehrer besonders drangenommen, weil sie nebst der Arbeit keine Zeit hatten für die Hausaufgaben. Sie waren schlechter gekleidet als die anderen Kinder und wurden gehänselt. Das alles war gesellschaftlich akzeptiert.
Und die Kirche beziehungsweise die Pfarrer waren Teil davon und machten mit.
Ja, so schwer vorstellbar das für uns heute auch ist.
Dazu gehörte auch, dass man ein Kind ungestraft schlagen, demütigen und misshandeln durfte.
Die körperliche Ertüchtigung – wie es damals hiess – war akzeptierter Teil der Erziehung. Und weil Verdingkinder als Menschen zweiter Klasse betrachtet wurden, litten sie noch mehr darunter.
Doch wie geht dieses Denken mit dem christlichen Glauben zusammen? Man hatte damals ja dieselbe Bibel wie wir sie heute kennen.
Heute wird das Evangelium als eine befreiende Botschaft gesehen. Jeder Mensch hat seinen Wert und Gott achtet jede Person gleich, unabhängig von der gesellschaftlichen Stellung. Das war damals anders. Die Gesellschaft kam vor dem Individuum. Ein guter Christ war, wer sich nützlich in die Gesellschaft einbrachte. Gelehrt wurde mit grosser Strenge, die Themen Sünde und Gericht standen dabei im Zentrum. Dieses Denken, diese Werte zogen sich durch alle Lebensbereiche.
Und wo blieben christliche Tugenden wie Nächstenliebe und Barmherzigkeit? Die verdingten Kinder stammten grösstenteils aus armen oder zerrütteten Familien.
Die Armut wurde als Bedrohung der bürgerlichen Lebensweise gesehen, wie übrigens auch Alkoholismus oder uneheliche Kinder. Armut war aus damaliger Optik immer selbst verschuldet und nicht Folge von Ungerechtigkeit oder strukturellen Problemen. Weiter ging man davon aus, dass Armut vererbbar sei. Deshalb wollte man die Kinder aus diesem Umfeld herausnehmen und sie zu nützlichen, arbeitssamen und gottgefälligen Mitgliedern der Gesellschaft erziehen. Das war das oberste Ziel. Wer den gesellschaftlichen Normen nicht entsprach, musste entfernt werden. Das galt zum Beispiel auch für ledige Mütter oder alkoholkranke Väter.
Sie legen Wert darauf, das Geschehene in den gesellschaftlichen Kontext einzubetten. Betroffene könnten das so auslegen, dass ihr Leid relativiert wird.
Darum geht es mir nicht. Ich will keinesfalls das geschehene Unrecht schönreden. Aus heutiger Warte ist es für mich beispielsweise fast nicht verdaubar, dass Verdingkinder als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden und viele Pfarrer sich nicht für die Schwächsten der Gesellschaft einsetzten. Es ist aber trotzdem wichtig, zu verstehen, wie es dazu kommen konnte und daraus Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.