Spannende Geschichtslektion

Spannende Geschichtslektion
tudierende der PH Bern sitzen in der Runde mit Fritz Boss, einem einstigen Verdingkind. Die jungen Menschen sind betroffen von seiner Geschichte und stellen Fragen. / Bild: Karl Johannes Rechsteiner (kjr)
«Verdingt – versorgt» (3/6): Wenn Fritz Boss zu erzählen beginnt, hat er die volle Aufmerk­samkeit der jungen Leute an der Pädagogischen Hochschule Bern. Der 85-Jährige berichtet von seinem Schicksal als Verdingkind.

Es herrscht ein reges Kommen und Gehen im modernen Schulgebäude der Pädagogischen Hochschule im ehemaligen Von-Roll-Areal in der hinteren Länggasse in Bern. Überall in Ecken und Nischen sitzen junge Leute konzentriert hinter ihren Laptops, Schulbüchern und Notizheften. Es ist gar nicht einfach, das richtige Schulzimmer zu finden, wo das Seminar «Jüngste Geschichte» mit Professorin Regula Argast stattfindet. Dort wird flugs die Sitzordnung umgestellt – die Tische kommen an die Wand, 25 Jugendliche setzen sich in einen grossen Stuhlkreis, zusammen mit ihrer Dozentin und Fritz Boss. Der freundliche ältere Herr in der Runde fällt auf, nicht nur wegen seines Alters von über 85 Jahren, sondern auch mit seinen kräftigen Händen, die ein reges Arbeitsleben verraten. Ohne Umschweife beginnt er zu erzählen – interessiert und fasziniert hören die jungen Anwesenden über eine Stunde lang gebannt zu. Nur ab und zu ergreift Claudia Sollberger das Wort. Die Co-Geschäftsleiterin des Erzählbistros (siehe Kasten) wirkt als zurückhaltende Moderatorin, ergänzt da und dort oder ordnet ein, wie exemplarisch die Erfahrungen von Fritz Boss sind für die
unzähligen Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in der Schweiz.


«Du musst weggehen»

1947 beginnt das Drama des Fritz Boss. «Morgen hole ich dich wieder», erklärt ihm sein Vater, als er ihn nach einer ungewöhnlichen Zugfahrt auf einen Bauernhof ins Seeland gebracht hat. Doch Papa kam nicht wieder, es begann ein Leben als Verdingbub und später als Knecht. Der Satz des Vaters hat sich tief in seine Seele eingebrannt. Er bildet auch den Titel eines Büchleins mit den Erinnerungen an die jungen Jahre des Fritz Boss, das 2021 erstmals erschienen
ist. Es ist erst knapp drei Jahre her, als er erstmals begann, von seinem Schicksal zu erzählen. Lilian Fankhauser, die Tochter seiner Lebenspartnerin, begann ihn zu befragen. Aus dem Interview wurde ein Gespräch, das die junge Frau immer wieder zu Tränen rührte. Fritz Boss holte verdrängte und verschwiegene alte Fakten aus dem Vergessen.


«Macht es wie Pulfer Köbu»

Fritz war neun Jahre, als er verdingt wurde, ein fröhlicher Zweitklässler. Die Familie lebte in Armut, die Geschwister mussten nach und nach von Zuhause weg. Immer wieder kam eine strenge «Frau in Bluse» vorbei, die Fritz ängstigte. Nach einem solchen Behördenbesuch gestand ihm seine Mutter eines Tages: «Du musst auch weggehen.» An seinem Schicksal als Verdingbub sei er aber nicht zerbrochen, erklärt Fritz Boss: «Ich hatte es nicht so schlimm. Ich hatte immer genug zu essen, ass mit der Bauernfamilie am selben Tisch und hatte ein eigenes Zimmer und ein eigenes Bett.» Es sei ihm besser ergangen als vielen der etwa 85´000 Kinder in der Schweiz, die während über fünf Generationen verdingt wurden – erst 1981 wurde diese Praxis verboten. Fritz Boss kämpfte sich durch und schaffte es, eine Metzgerlehre zu absolvieren, war in seinem Beruf glücklich und lebt heute zufrieden mit seiner Partnerin zusammen. Freundlich und humorvoll weiss er die Fragen der Studierenden zu beantworten. Den künftigen Lehrerinnen und Lehrern empfiehlt er, wie einst Pulfer Köbu auf die Schulkinder zuzugehen – denn dieser Lehrer stärkte und ermutigte den Verdingbuben damals immer wieder, seinen eigenen Weg zu gehen. Allen Widrigkeiten zum Trotz.

Der Dialog ist ein Gewinn für alle Beteiligten

Wenn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von ihrer Erfahrung mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen berichten, hat dies einen vielfältigen Effekt. Der Dialog zum Beispiel mit Schülerinnen oder Studenten wirkt befreiend: Betroffene erleben es als stärkend und heilend, wenn ihnen zugehört wird. Das Erzählen habe einen positiven Einfluss auf die Verarbeitung ihrer Vergangenheit, schildern sie ihre Erfahrungen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer ihrerseits bekommen einen
direkten Einblick in dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte und werden für entsprechende Mechanismen sensibilisiert. Entscheidend dabei ist auch die Rolle von Lehrpersonen. Denn es braucht eine sorgsame Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von solchen Schulbesuchen. Noch findet diese Verarbeitung von Geschichte nur vereinzelt an Schulen statt. Die Co-Geschäftsführerin des Erzählbistros, Claudia Sollberger, hat sich im Rahmen

einer universitären Weiterbildung mit dieser Art von Lebenserzählungen und Lebensgeschichten befasst. Sie untersuchte im Rahmen ihres Projekts das Erleben von Schulbesuchen von Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Dabei befragte sie unter anderem 180 Jugendliche, wie sie den Besuch eines Zeitzeugen erlebt haben. Die Ergebnisse zeigen, dass der Dialog gewinnbringend für alle Beteiligten ist. In Zukunft sollen weitere Schulbesuche stattfinden, ein Beispiel dafür ist das Erzählbistro bei Studierenden der Pädagogischen Hochschule in Bern. Das Erzählbistro ist aber auch ein Begegnungsort für Betroffene zum sich Treffen, Sprechen und Austauschen. Es bietet ausserdem verschiedene Veranstaltungen.

05.01.2024 :: Karl Johannes Rechsteiner (kjr)