Sich erinnern, aber sich auch hinterfragen

Sich erinnern, aber sich auch hinterfragen
Martin Lehmann erzählte die Geschichte seines Onkels, der, wie das Mädchen auf dem Bild, verdingt wurde. / Bild: Christina Burghagen (cbs)
Langnau: Von Aarberg bis ­Zweisimmen beteiligen sich 166 Gemeinden im Kanton Bern an dem Projekt «Zeichen der ­Erinnerung». Auch Langnau ist mit dabei.

Die Zahl der Verdingkinder, administrativ Versorgten, Psychiatrieopfer und Kinder von Fahrenden, über welche die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen bis in die 1980er-Jahre hereinbrach, ist nicht bekannt. Denn die Dokumentationen sind lückenhaft, viele Betroffene schon gestorben, andere können über das Leid in ihrer Kindheit nicht reden, weil es unaussprechlich ist. «Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten», leitete Gemeindepräsident Walter Sutter (SVP) seine Ansprache anlässlich der Eröffnung der Plakatausstellung «Zeichen der Erinnerung» ein. Sutter begrüsste die Aufarbeitung der dunklen Zeit in der Schweizer Geschichte im Kanton und übergab das Wort an Gemeinderat Martin Lehmann (SP).


Eine persönliche Geschichte

Im März sei seine Mutter 90 Jahre alt geworden, und er habe ihr ein Buch geschenkt, das auf Gesprächen mit Vater und Mutter basiert, die er in den letzten zwei Jahren aufgenommen hat, begann Lehmann zu erzählen. Der Grossvater mütterlicherseits sei früh verstorben und habe Frau und fünf Kinder hinterlassen. Da die Mutter als Näherin und in der Milchsiederei arbeiten musste, schaute anfangs die Schwägerin nach den Kindern. Drei Jahre später heiratete Lehmanns Grossmutter einen Witwer, der vier Kinder hatte. Bald war alles zu eng und zu viel, sodass beschlossen wurde, die Buben zu verdingen. Zwei der Knaben hatten es ganz gut getroffen mit ihren Bauernfamilien. Nicht so Ernst, der Älteste: Er kam zu einer angeblich angesehenen Familie in Röthenbach – und erlebte die Hölle. «Er musste chrampfe wie ein Knecht, wie ein Ross, wurde wegen Lappalien blutig geprügelt, hatte Hunger, musste frieren und hatte Heimweh», erzählte Martin Lehmann mit betroffener Stimme. Und die Anwesenden hielten die Luft an. 

Als Ernst Baumann 70 Jahre alt war, veröffentlichte Lehmann im Jahr 2003 in der evangelisch-reformierten Zeitschrift «Saemann» die Lebensgeschichte seines Onkels. Eine Woche später stand ein Blumenstrauss vor Ernsts Tür. Dann kam ein Telefonanruf. «Der Sohn der einstigen Pflegefamilie hatte den Beitrag gelesen», fuhr Lehmann fort. Nach einigen Treffen entstand eine Art Freundschaft, die fast 20 Jahre dauern sollte. Kurz vor dem Tod von Ernst sei der Bauerssohn ins Pflegeheim gekommen und habe dem inzwischen dementen Greis Joghurt eingelöffelt.


«Der Blick zurück reicht nicht»

Mit dieser persönlichen Geschichte endete Lehmann aber nicht. Es sei gut, sich zu erinnern und nicht zu vergessen, Doch der Blick zurück reiche nicht. Sonst sei man schnell bei der Entrüstung, bei der Schuldzuweisung und beim erhobenen Zeigefinger, der aber nichts mehr mit uns zu tun hat. «Es braucht aber den Blick in die Gegenwart, damit sich das Unglück, das damals den Verdingkindern, den Kindern der Landstrasse, den administrativ Versorgten widerfahren ist, nicht mit neuem Gesicht wiederholt», fuhr der SP-Mann fort. Zwei Fragen warf der Redner auf: Wie gehen wir heute mit Armutsbetroffenen, den Nonkonformen und den Störenfrieden um? Und: Sind wir da wirklich so viel weiter, so viel gescheiter, so viel anständiger als unsere Vorfahren? Politdebatten über die Verhandelbarkeit von Sozialhilfe-Mindestansätze oder Widerstände von Gemeinden, wenn es um Halteplätze für Jenische geht, liessen daran zweifeln, so Lehmann. «Wegsperren, wegdrängen, wegschicken scheint auch im 21. Jahrhundert für einige noch immer ein Lösungsansatz zu sein.» 

Musikalisch umrahmt wurde der Anlass vom Alphorn-Trio Cornuti, das dem Anlass angemessen eindringliche Eigenkompositionen spielte. Als bleibendes Zeichen im Gedenken
an die Praxis der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen wurde am Kopfgebäude des Langnauer Viehmarkts eine Gedenktafel angebracht. Die Plakatausstellung auf dem Viehmarkt ist bis 6. Juni zu sehen.

Die Ausstellung «Zeichen der Zeit»

Die Ausstellung zum Thema fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung umfasst 20 Plakate, die wie Schlaglichter Aspekte des Leids aufzeigen. Mit Titeln wie «Heim ohne Heimat», «Am Schweigen verzweifeln» oder «In Armut gefangen» begegnen dem Betrachtenden Fotos von damals, aus denen teils gebrochene Kinderaugen und traurige Gesichter schauen. Kurzgefasste Texte begleiten die Fotos. Nicht nur in der Vergangenheit liegen die Themen. Beim Plakat «Erben, ohne es zu merken» wird das Trauma thematisiert, das betroffene Menschen an die nächsten Generationen weitergeben – sogar, wenn sie nie über die Erinnerungen gesprochen haben.
Auf dem 21., leeren Plakat haben Besuchende die Möglichkeit, ihre Anmerkung zur Ausstellung schriftlich kundzutun. 

Die Plakate können auch auf der Webseite zeichen-der-erinnerung-bern.ch betrachtet werden.

01.06.2023 :: Christina Burghagen (cbs)