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Den Bogen überspannt?

Es gibt Sätze aus der Kindheit, die bleiben. Ein solcher Satz war für mich der meines Vaters: «Überspann den Bogen nicht!» Der strenge Blick dazu, die beiden senkrechten Faltenstränge zwischen den Augen, die sich sichtlich vertieften und die scharf artikulierten Worte; genau das hasste ich als Jugendliche und liebte es gleichzeitig sehr, denn es gehörte zu meinem Vater. Ich hatte diesen Satz lange verdrängt, bei der Erziehung meiner inzwischen erwachsenen Kinder mit genau der zwiespältigen Erinnerung wieder hervorgeholt – und neulich begegnet er mir wieder, obschon ich ihn sorgsam weggeräumt hatte. Es war nach Ostern, einer dieser meteorologisch aufmüpfigen Apriltage, und ich sollte vom Bahnhof Bern zu meiner Arbeit in der Klinik fahren. Es regnete und hagelte, waagrecht und senkrecht, ein Wetter, dem kein Regenschirm hätte standhalten können – jedenfalls entschloss ich mich, ausnahmsweise das Taxi zu nehmen.

Der Chauffeur, vermutlich türkischer Abstammung, begann während der Fahrt angeregt mit mir zu diskutieren. Übers Wetter natürlich – obschon ich wohl das erste Mal während einer Taxifahrt über weit mehr sprach als übers Wetter. Wir fuhren von Bern Richtung Ostermundigen.Über dem Emmental baute sich eine pechschwarze Wolkenwand auf, während die Klinik und Ostermundigen gerade noch im Sonnenschein lagen.

Und plötzlich sahen wir ihn: den doppelten Regenbogen, der sich vom Klinikparklatz bis an den Fuss des Gantrischs zog. Er überspannte alles, und je dunkler die Wolkenwand wurde und je heller die Sonne schien, desto leuchtender wurden seine Farben. Mein Taxichauffer gestikulierte wild und rief immer wieder aus: «Gross ist Allah! Schauen Sie, wie gross er ist! Und ihre Gott ist auch gross!» Nach und nach hielten die Autos vor uns, fuhren an den Strassenrand, Menschen stiegen aus und schauten zum Himmel. Auch wir standen plötzlich nebeneinander auf dem Gehsteig und schauten zum Regenbogen hoch. Ich hörte nur noch, wie jemand kopfschüttelnd ausrief: «Da hat aber einer den Bogen ganz schön überspannt!»

Und ich musste dankbar schmunzeln.

04.05.2023 :: Patrizia Weigl