Eselsohren? Ja, gerne!

Eselsohren? Ja, gerne!
So sieht das Endprodukt aus: Eine Friedenstaube, gefaltet aus einem Buch. / Bild: Gabriel Anwander (agl)
Biglen: Jedes Jahr ersetzt die Bibliothek bis zu 600 Bücher. Statt die alten wegzuwerfen, können daraus Kunstwerke entstehen. Am Samstag haben Interessierte erfahren, wie das geht.

In der Vorbereitung faltete Yvonne Liechti eine Friedenstaube.

Liechti steht kurz vor dem Abschluss eines Zertifikatskurses von Biblioswiss (Vereinigung der Schweizer Bibliotheken) und wählte für ihre Abschlussarbeit das Thema «Upcycling von Büchern». Frei übersetzt heisst das: Büchern ein zweites Leben schenken. Sie suchte nach einer Nutzung für jene Bücher, die aus einer Bibliothek ausgeschieden werden, und fand im Internet Faltmuster – präzise Anleitungen, mit denen die Blätter eines Buches in einem definierten Winkel gefaltet werden müssen. Am Ende bilden alle Eselsohren zusammen einen dreidimensionalen Schriftzug, eine Skulptur, ein Objekt. Vorkenntnisse sind nicht nötig, ebenso wenig wie Leim, Klebestreifen oder Bostitch.


600 aus 60‘000 auswählen

Es existieren zahlreiche Vorlagen von einfach bis hochkomplex, erklärt Yvonne Liechti. Einige Muster seien frei verfügbar, andere müssten gekauft werden, vergleichbar mit Schnittmustern für Kleider. Jede Anleitung sei auf eine Anzahl Seiten und somit auf eine minimale Buchdicke abgestimmt, so Liechti. Sie faltete versuchsweise drei Bücher, eines davon, wie eingangs erwähnt, zur Friedenstaube. Danach kam sie zum Schluss: Das Falten und Gestalten würde sich für einen geselligen Nachmittag in der Bibliothek eignen.

Renate Studer ist Leiterin der Schul- und Gemeindebibliothek Biglen. Das Budget erlaube ihnen, jedes Jahr bis zu 600 Bücher anzuschaffen. Das bedeute aber auch, dass jedes Jahr ebenso viele aus dem Bestand ausgesondert werden müssten. Pro Jahr erscheinen im deutschsprachigen Raum über 60´000 neue Titel. Aus dieser Flut 600 Titel für die Bibliothek Biglen auszuwählen, sei ein ständiges Ringen, sagt Studer. Doch noch mehr Mühe bereitet ihr das Entfernen der älteren Bücher. Die Statistik der Datenbank sei diesbezüglich gnadenlos: Sie liste über eine längere Zeit nicht ausgeliehene Titel auf, darunter nicht selten lesenswerte Perlen, Kinderbücher wie Romane. Sie werden wie Mauerblümchen übergangen, weil sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht im Brennpunkt stehen.

Manchmal halte sie ein Buch zurück und versuche, es neu beliebt zu machen, sagt Renate Studer. Die meisten Kinderbücher trete sie an Kinderkrippen ab, Krimis und Gesellschaftsromane deponiere sie im Sommer in der Badeanstalt. Um weitere Bücher zu retten, haben Studer und Liechti nun das Bücherfalten in ihrer Bibliothek organisiert. Liechti kopierte vor dem Anlass einfache bis mittelschwere Faltmuster und wählte aus den Stapeln ausgeschiedener Romane rund 30 Exemplare aus, die zwischen 350 und 450 Seiten aufweisen.


Exakt oder rasch

Nun ist der Tag des Faltens gekommen. Kinder wie Erwachsene strömen in die Bibliothek Biglen. Nach einer kurzen Instruktion wählen alle ihr Motiv aus, schnappen sich eine Vorlage und ein Buch, setzen sich an einen Tisch und beginnen zu falten. Die Erwachsenen starten konzentriert, legen vom ersten Falt an grossen Wert auf die Exaktheit. Nach wenigen Minuten sind alle in ihre Arbeit vertieft und mit der Routine kommen Gespräche auf. Zur Stärkung gibts Kaffee und Kuchen. An den Tischen der Kinder stehen der Spass an der Sache und das rasche Vorwärtskommen über der Perfektion. Zwischendurch wird sogar gewetteifert. «Ich bin schon auf Seite 141. Wie weit bist du?» – «Erst auf Seite 118.» Auf die Frage, welches Motiv sie gewählt hätten, antworten zwei Mädchen: «Home.» Eines sagt: «Love.» Und das vierte am Tisch hat sich für das «Kaninchen» entschieden.

Alle Tische sind besetzt. Yvonne Liechti freut sich, dass so viele der Einladung gefolgt sind. «Es geht auch darum, die Bibliothek als Treffpunkt bekannter zu machen», sagt sie. Im Grunde ist jede Bibliothek ein Ort der Begegnung: Wer mag, kann hier in Ruhe verweilen, in Büchern schmökern, Leseerfahrungen austauschen und Medien aller Art ausleihen.

Auf die Frage, ob sie den Anlass nächstes Jahr wiederholen, antwortet Renate Studer: «Möglicherweise ja, vielleicht erneut im Rahmen einer Upcycling-Idee. Bücher gibt es genug.» Wege, alte Bücher neu zu nutzen, gebe es zuhauf, fügt Liechti an. «Zum Beispiel lassen sich Hocker und Tischleuchten daraus machen.» Die heute gefalteten ­Bücher würden voraussichtlich ausgestellt. Und die Friedenstaube? Die bekomme einen besonderen Platz.

30.03.2023 :: Gabriel Anwander (agl)