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Dann bin ich halt ein Weichei

Wie das früher wohl war, dachte ich in den letzten Wochen manchmal, wenn ich am Morgen die vielen Bäuerinnen und Bauern sah, die mit Autos und Tankanhängern ihre Milch in die Käserei Gohl brachten. Früher, als die Winter noch richtig streng waren und die Technik in den Kinderschuhen steckte. Unvermittelt musste ich an das tolle Buch des Basler Schriftstellers Werner Ryser denken, das hier im Gohlgraben spielt. «Geh, wilder Knochenmann!» heisst es und spielt in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der junge Simon Diepoldswiler wird von Langnau in den Gohlgraben verdingt, ins Hollerbüelhus. Seit drei Tagen schneite es ununterbrochen. Im Flockenwirbel, der wie ein Vorhang aus grob gewobenem Halbleinen über dem Land lag, konnte Simon die hohen, dunklen Tannen am Waldrand hinter dem Hof nur schemenhaft erkennen, heisst es dort. Damals hatten die wohlhabenderen Bauern für den Gang in die Käserei Pferde, die im Winter den schweren Schlitten durch den Schnee zogen, ­andere zumindest zugkräftige Berner Sennenhunde. Doch arme Gesellen wie Simon mussten den Karren mit den schweren Milchkannen mühsam selber ziehen. Simon hatte seinen Karren gepackt und sich auf den Rückweg gemacht. Nach einem langen, mühsamen Aufstieg im Schneegestöber durch den winterlichen Wald stand er nun am Brunnen. Zitternd vor Kälte wusch er mit steifen Fingern die beiden Kannen aus. Aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbar, wie Simon die Kälte den ganzen Winter über in den Knochen gesteckt haben muss. Bekleidet nur mit einem dünnen Leinenhemd, löchrigen Hosen und Kittel. Dazu einfache Wollsocken und Lederschuhe. 

Daran musste ich denken, als ich vor einigen Wochen im Berner Seeland frühmorgens auf einem Hochsitz sass und gespannt auf Wildschweine wartete. Es war minus zehn Grad und die Bise wehte über das offene Feld. Doch konnte mir dieses garstige Wetter kaum etwas anhaben, so dick wie ich eingepackt war. Merinowoll-Funktionsunterwäsche hielt mich mollig warm. Und dazu – davon konnte Simon Diepoldswiler wohl nur träumen – trug ich erstmals beheizbare Socken. Erst wollte ich davon ja nichts wissen. Das ist doch was für Weicheier, dachte ich mir. Doch mit der Aussicht, mehrere Stunden in der klirrenden Kälte zu sitzen, konnte ich dann doch nicht widerstehen. Seither sorgen zwei kleine Akkus für ­warme Füsse. Trotz dieser Massnahme begann ich nach etwa drei Stunden zu zittern. Und mir wurde bewusst, dass ich im Gohlgraben des 19. Jahrhunderts wohl nicht allzu lange überlebt hätte.

02.03.2023 :: Ann Schär