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Sehen und gesehen werden

Normalerweise hat dieser Ausdruck einen eher negativen Beigeschmack. Es geht um die Schönen und Reichen, die in

ihrer Extravaganz gesehen werden wollen. Durch die diesjährige Jahreslosung bekommt er für mich aber eine tiefere,
gar heilende Bedeutung. «Du bist El Roi. Du bist ein Gott, der mich sieht.» So sagt es
Hagar an der Quelle auf dem Weg nach Schur, nachdem sie vor ihrer Herrin Sarah, der Frau Abrahams, geflohen ist. Dort an der Quelle macht sie die heilsame Erfahrung des Gesehen-werdens. Sie erlebt, da ist jemand, der mich und mein ganzes Sein erfasst und annimmt. Ich werde nicht darauf reduziert, was ich bin, sondern wer ich bin. 

Die Komplexität unseres Alltags führt häufig dazu, dass wir Menschen auf ihr Was reduzieren. Wir sehen den Elektriker, die Malerin, den Lehrer, die Ärztin. Wir sehen Frauen und Männer, die Mütter, Väter, ­Töchter, Brüder, Freunde oder Fremde sind. An das Was sind vielerlei Projektionen geknüpft, die wir meist, ganz unbewusst, anwenden. Wir lassen uns von solchen Vorurteilen in unserem Umgang mit Menschen leiten, weil es unseren Alltag einfacher und berechenbarer macht. Das ist verständlich und in bestimmtem Masse sicher auch gut. Sich aber vermehrt auch zu fragen: «Wer ist dieser Mensch, der mir hier gegenübersteht?», würde unserem Miteinander und jedem Einzelnen von uns guttun. Es bestärkt uns in unserem Menschsein, wenn wir spüren, wenn wir erleben: unser Gegenüber ist ehrlich daran interessiert, wer wir sind. 

Natürlich braucht es auch den Mut, dieses Wer zu zeigen. Es anderen zugänglich zu machen. Das können wir aber nur, wenn wir erleben, dass unser Gegenüber daran ehrlich interessiert
ist und sorgfältig damit umgeht. Dass berücksichtigt wird, dass wir alle Menschen mit Fähigkeiten und Grenzen sind, welche nicht immer zwingend dem Was entsprechen müssen. 

«Du bist ein Gott, der mich sieht.» Möge diese Jahreslosung 2023 uns zu einem sorgfältigen Umgang miteinander anregen.

26.01.2023 :: Silvia Stohr