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Ungleiches Zeitempfinden

Am Sonntag nach dem Dreikönigstag haben wir ihn entsorgt – unsern Weihnachtsbaum. Es ist bereits zur Tradition geworden. Das Kaminfeuer brennt und auf dem Tisch die Adventskalenderkerze, die mir meine Schwester zum ersten Dezember geschenkt hatte. Lust darauf, all die ­Kugeln möglichst sorgfältig von den Ästchen zu streifen, ohne dass es dabei Nadeln regnet, hat niemand so wirklich. Ich hole die ewig gleiche Kartonschachtel vom Estrich und die Blechbüchse für die wachsverschmierten Kerzenhalter. Fast trotzig kleben sie an den dünnen, trockenen Ästen und lassen sich ungern lösen. Und wie jedes Jahr geht auch heute wieder eine hauchdünne Glaskugel kaputt. Sie rutscht unauffällig vom müden Tannenast – zu spät haben wir bemerkt, dass sie sich nicht mehr getragen weiss. Etwas ratlos schauen mein Mann und ich uns an, einen Moment versucht, den andern für die feinen Scherben verantwortlich zu machen. Die Kartonschachtel ist übervoll – wie immer drücke ich die Wollschafe, Maria und Josef oben drauf. Zufrieden und etwas energisch will ich die Schachtel mit Klebeband verschliessen – und wie immer hält der alte Klebstoff nicht mehr. «Man füllt keinen neuen Wein in alte Schläuche», meint mein Mann grinsend und reisst ein grosses Stück neues Teppichklebeband ab. Von wegen neu und anders, geht es mir durch den Kopf. Ich schaue in die Flamme der Advenstkalenderkerze meiner Schwester. Auf der weissen Kerze sind schwarz und sehr präzis Striche mit der jeweiligen Zahl eingrafiert – bis zur Nummer 24 ganz unten am Kerzenboden. Gedacht war, dass sie jeden Tag jeweils bis zum nächsten Strich niederbrennt. Aber es dauerte lange… und meine Zeit lief deutlich schneller als ihre durch den Dezember. Beim Aufräumen des Baumschmucks am Sonntag war sie erst beim 16. Dezember angelangt, obschon sie exzessiv gebrannt hatte die letzten Tage – also deutlich vor Weihnachten. Und einen kurzen Moment war ich mir nicht mehr sicher, wer nun mit seiner Zeit eigentlich Recht hatte.

12.01.2023 :: Patrizia Weigl