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Blickwinkel

«Auso weisch, weni e Pischtole gha hätt, ich hätt dert übere gschosse!» Dies sind keine Worte aus einem Western, nein, es sind Worte der ziemlich aufgebrachten Berthi, die frühmorgens bei Rösi auftaucht, etwas zerzaust, mit Ringen unter den Augen. «Nume ruehig, tue afe einisch düreschnuufe», sagt Rösi erstaunt, denn sonst wettert  Berthi nicht so drauf los.

Da muss ihr ja eine monstermässige Laus über die Leber gelaufen sein. Nachdem sich Berthi beruhigt hat, kann sich Rösi ein Bild machen von der wilden Geschichte. Was Berthi so dermassen in Rage gebracht hat, war das grosse, mehrtägige Fest auf dem Hügel, luftlinienmässig genau vor Berthis Schlafzimmer, der Lärm, Musikfetzen, Knallerei aber fanden den Weg auch ins Schlafzimmer, durch die Fenster hindurch – und das drei Tage und Nächte lang! 60 Stunden ohne Schlaf, das bringt jeden an den Rand der Verzweiflung!

Diese Wut und Ohnmacht, die sie spürte, beschäftigt Berthi weiterhin. Es habe sie schon schockiert, sagt sie später zu Rösi, dass sie so empfand. Sie denke an das Gerede über den komischen Kauz im Hinterdorf, über den sich alle nervten, der habe die Gartenparty der Nachbarn mittels Gartenschlauch und geworfenen -Flaschen beendet und auch -Verletzungen verursacht. Auch sie beide hätten mitgelästert und gedacht, wie man nur könne! Jetzt habe sie gemerkt, man könne sehr wohl und wie! Sei man selber in der Situation, sehe vieles anders aus.

Sie könne den jetzt voll ver-stehen, vielleicht habe der ja wegen des Lärms auch wochenlang nicht schlafen können, vielleicht waren die Nachbarn wirklich Nervensägen. Sie werde sich jedenfalls von nun an Mühe geben, nicht einfach so über die Leute zu urteilen, sondern viel mehr versuchen, die Sache auch aus deren -Blickwinkel zu betrachten.

Rösi pflichtet ihr bei: Ja, das ist wohl dann eine konkrete Umsetzung vom Vers: «Freut euch mit denen, die sich freuen. Weint mit denen, die weinen.»
(Römer 12:15)

03.11.2022 :: Jasmin Steffen