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Zwischenräume

Sie war regelmässig im alten Kulturkino in Brugg. Dort gehörte sie dazu wie der Geruch nach Popcorn und das etwas zu laute Knirschen der M&M zwischen den Zähnen der Jugendlichen in der  vorderen Reihe. Sie war eine jener Menschen, die es schaffte, dass ich an ihr mehr hängen blieb als am Film. Die ich in der Pause anstarrte und dabei vergass wie unhöflich das ist. Und doch am Ende regelrecht aus dem Kino flüchtete, um nicht verstrickt zu werden in den wirklichen Film eines Menschenlebens, von dem ich wusste, dass ich es nicht mehr so schnell los werde. Meistens ist mir dies auch gelungen. Bis auf jenen einen Abend. Sie war auch da und trug hohe Krokodillederstiefel und ein goldenes Regencape. Cécile – so hiess die über 90 jährige alleinstehende Dame, Kunstsammlerin und ehemalige Lehrerin am Gymnasium - war tief vornüber gebeugt über ihren Rollator. Aufmerksam wie sie war, hatte sie nur zu schnell meinen Mann erspäht: «Sie sind doch der Weigl? Peter oder? Ehemaliger Kunstschüler von mir?» Ob wir sie bei diesem Regenwetter nicht heimfahren und ihr aus den engen Lederstiefeln helfen könnten. Warum wir bis drei Uhr morgens in Céciles Wohnung, einer Ausstellung liebevoll gesammelter Kunstgegenstände blieben? Ich weiss es nicht – höflich war es bestimmt nicht. Nur eines vergesse ich nicht mehr. Wir standen vor der zimmerhohen Vitrine, hinter der Cécile ihre legendäre Glassammlung ausstellte – Vasen mit zierlich eitlen Glashälsen, hohe und erhabene und dicke bodenständige in schüchternen Farben. Was wir da sähen fragte Cécile und schaute uns herausfordernd an. Naja, wundervollstes Antikglas, und jedes an seinem perfekten Platz. Da lachte Cécile laut und trat ganz nah zu uns: «Seltsam. Ich sehe keine Vasen und Gläser. Ich sehe die Räume dazwischen. Seht, es ist wie im Leben: Beim Ausstellen kommt es nicht auf die Gegenstände an, sondern auf die Zwischenräume. Erst dann beginnen sie zu leben.»

Cécile lebt inzwischen nicht mehr. Ihren Vasen ist mein Mann ganz unerwartet bei einem Besuch im Spital Aarau wieder begegnet. Cécile hat ihre Glassammlung dem Spital hinterlassen. Dort erinnern sie ans Leben – oder nein, vielmehr an seine Zwischenräume.

20.10.2022 :: Patrizia Weigl