«Wenn das Glück vorbeikam, griff ich zu»

«Wenn das Glück vorbeikam, griff ich zu»
2021 feierte das Ehepaar zum letzten Mal gemeinsam den Nationalfeiertag. Ursula Stucki starb am 27. Juni dieses Jahres. / Bild: zvg
Langnau: Vor 55 Jahren betrat er zum ersten Mal neuseeländischen Boden. Obwohl Jürg Stucki sich im Land der Kiwis heimisch fühlt, ist er im Herzen ein Emmentaler geblieben.

«Mir bedeutet das Emmental viel», sagt Jürg Stucki. Der 79-Jährige sitzt in seinem Wohnzimmer vor dem Bildschirm, per Videotelefonie verbunden mit der Schweiz. Vor seinen Fenstern am andern Ende der Welt ist es bereits dunkel. Zehn Stunden beträgt der Zeitunterschied. Stucki wohnt in einem schmucken Haus direkt an einem kleinen See, in der Nähe von Rotorua. Gerne blickt er zurück ins Jahr 1967, als er als 24-jähriger Confiseur-Patissier zusammen mit seiner ebenso jungen Frau Ursula das Schiff Flavia bestieg mit Kurs auf Auckland. In der Schweiz war es den beiden zu eng geworden, und erste Auslanderfahrungen in England und Schweden weckten die Lust darauf, mehr zu sehen von der Welt. «Schon mein Vater wäre vermutlich ausgewandert, wenn nicht der Krieg dazwischengekommen wäre», weiss Stucki, der in Langnau aufgewachsen ist.


Weniger sparen, mehr umziehen

Für Ursula und Jürg Stucki war es ein Abschied für immer. «Ein Flug war damals umständlich und viel zu teuer», erinnert er sich. «Unsere gemütliche Reise mit dem Schiff dauerte fünf Wochen.» Sie landeten im August mitten im neuseeländischen Winter, mit ein paar hundert Franken in der Tasche.

Bevor er die vereinbarte Arbeitsstelle antreten konnte, hielt sich Jürg Stucki mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Später bekamen beide feste Arbeitsplätze und passten sich der neuseeländischen Mentalität an. «Neuseeländer sparen weniger und ziehen häufiger um», beobachtete der Auslandschweizer. Also machten sie es ebenso und ergriffen jede Gelegenheit, die sich ihnen bot, oder wie es Stucki ausdrückt: «Wenn das Glück vorbeikam, griff ich stets zu.» Eine Gelegenheit bot sich 1972, als die Familie, inzwischen mit zwei kleinen Mädchen, begann, bei sich zu Hause Pralinés, Schoggi-Osterhasen und anderes zu produzieren. Zuerst für ausgewanderte Schweizer, später belieferten sie auch Delikatessen-Geschäfte. Ein Durchbruch, wie Stucki schon 1989 in einer Kolumne für die «Wochen-Zeitung» schrieb. Bald darauf suchte jemand im 450 Kilometer entfernten Wellington einen Käufer fürs Café Matterhorn und die Familie zog erneut um. Diesmal blieb sie ganze 22 Jahre. Das Café im Stil eines Schweizer Chalets lief sehr gut, wenn auch die Arbeit ihnen viel abverlangte. «Danach hörten wir auf», erzählt Jürg Stucki. 


Schwerer Verlust

Nach der Frühpensionierung begann eine ruhigere Zeit. Die Kinder gründeten eigene Familien und ihre Eltern zogen ins besagte Haus am See. Jahrelang genossen sie die Ruhe, trafen sich mit ihren Freunden, fischten im See, unternahmen Reisen in die Schweiz und erfreuten sich an den vier Enkeln, die alle inzwischen erwachsen sind. Im Juni dieses Jahres verlor jedoch Ursula Stucki ihren langjährigen Kampf gegen den Krebs. «Am schwierigsten sind für mich die Abende», sagt Stucki, der nun alleine im Haus wohnt. Tagsüber habe er zum Glück immer viel zu tun. Entweder treffe er sich mit Einheimischen und Schweizer Kollegen, besuche seine Tochter, die in der Nähe wohnt oder bekomme Besuch von einem der Enkel. Vor allem der Jüngste helfe ihm oft bei den Arbeiten rund ums Haus. Als Confiseur verwöhnt George, wie ihn die Einheimischen nennen, oft Familie und Freunde mit Florentiner oder anderen Leckereien. Der neuseeländisch-schweizerische Doppelbürger fühlt sich in seinem Gastland sehr wohl. «Ich habe dem Land viel zu verdanken», meint er. 


Der Blick von aussen

Bei seinen Besuchen in der Schweiz fallen ihm die Veränderungen auf. Besonders eines gefällt ihm nicht: «Viele Schweizer benutzen heute im Dialekt englische Wörter, sogar wenn sie gar kein Englisch können!» Stucki selber spricht nach wie vor lupenreines Berndeutsch, wie er es schon damals, vor 55 Jahren, sprach. Zu hören ist dieses auch in den zumeist selbst gedrehten Filmen, die er auf seinem Youtube-Kanal teilt. Besonders beliebt ist ein Film über das Leben in Langnau der Fünfzigerjahre. 33´000 Mal wurde dieser schon angeschaut. Ein Zeitdokument, fast wie aus einer anderen Welt. 

29.09.2022 :: Rebekka Schüpbach (srz)