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Gute Aussichten

«Du, die Kinder von heute, die sind ja unglaublich gefitzt, wie die schon reden können!», meint Berthi staunend zu Rösi. Jetzt sei sie doch mit dem vierjährigen Enkel auf einem Ausflug gewesen bei der Hohwacht. Der Kleine habe natürlich zuoberst auf den Turm gewollt. Aber die Höhe sei jetzt gar nicht ihres, und sie habe nach der Hälfte schon genug gehabt. Es sei doch auch schön hier, habe sie ihm gesagt, die Aussicht sei doch gut hier. Aber der Kleine habe keine Ruhe gegeben und gemeint: «Weisst du, Grosi, da oben, da ist es noch viel aussichtiger!» Und da sei ihr nichts anderes übrig geblieben, sie habe es dann doch noch knapp geschafft und ja, es sei schon ein schöner Ausblick gewesen.

«Ja gäu», meint Rösi, «gute Aussichten könnten wir alle gebrauchen. Es wäre schön, könnte man für bessere Aussichten einfach auf einen Turm steigen. Aber im Moment bringt der höchste Turm keinen friedlichen Blick in die Zukunft.»

Apropos Turm, sie habe in der letzten Zeit oft an die Geschichte vom Turmbau zu Babel denken müssen, meint Berthi nachdenklich, wo die Menschen meinten, sie könnten alles, erreichten alles, seien selbst wie Gott. Und dann sei alles auseinandergefallen, und jetzt falle auch so vieles auseinander, was man nicht gedacht hätte, dass es das nochmals gäbe, hier in Europa. 

«Moment mal», wirft Rösi ein, und kramt im Papier auf ihrem Tisch herum. «Ich hab doch da einen Text von Dietrich Bonhoeffer: ‹Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen.

Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.›»


24.03.2022 :: Jasmin Steffen