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Eidechsen im Februar

Vermutlich sind Sie mit mir einig: Eidechsen gehören in den Süden. Auf warme Steinplatten und in die Sommermonate. 

Wussten Sie, dass das eigentlich nicht stimmt? Eidechsen gibt es nämlich im Februar. Auf dem Steinboden von Kapellen. Am liebsten am Sonntagmorgen zur Gottesdienstzeit in der Kapelle der Psychiatrischen Klinik Bern. Dann liegt sie auf dem Steinboden unter der Kanzel und sonnt sich. So wie am letzten Sonntag während des Gottesdienstes. Sie kam aus einer Ritze des Steintreppenabsatzes, der zum Chorteil der Kapelle führt. Ich war gerade dran, den Predigttext an der richtigen Stelle aufzuschlagen: Ein Text aus dem Alten Testament. Über die Verheissung eines Neuanfangs und die Aufforderung, in schweren Zeiten nicht zu verzagen. Die wendige, schlanke Eidechse kriecht ruckartig hervor. Sie macht etwa zehn Zentimeter vor meinen schwarzen Schuhen Halt und bewegt sich auch dann nicht vom Fleck, als ich die Osterkerze anzünde. Unerschrocken und beinahe etwas vorwurfsvoll – hellgrüne Trägerin der trotzigen Lebensverheissung. 

Auch als die helle Glocke läutet und sich die Kapelle langsam mit Gottesdienstbesuchern füllt, verharrt die Eidechse an ihrem Ort. Auf der mörtelgefüllten Naht der roten Steinfliesen des Kapellenbodens bleibt sie – während der Lieder, der Klänge des Flügels, der Worte zu Krieg und neuem Anfang, der leisen und lauten Gebetsseufzer. Erst als einer nach dem andern von seinem einsamen Platz in der Bankreihe aufsteht, um eine Kerze zu entzünden, kriecht die Eidechse flink zum Kerzenständer. Manches traurige Gesicht beginnt plötzlich zu schmunzeln. Einige bücken sich zur kleinen Echse hinunter. Und für einen kurzen Augenblick ist das Leben wieder einmal stärker als der Tod.


Text: Patrizia Weigl-Schatzmann

10.03.2022 ::