Schwacher Trost

«Wir wollten uns dann im Fall gar nicht etwa vordrängen», gellt es von links, als ich endlich meine Bestellung aufgeben kann. 

Zuvor habe ich für Minuten an der Bar gestanden und mich ignorieren lassen. Ich kann das, wenn auch nicht freiwillig. Stelle ich mich in einem gut gefüllten Lokal an die Bar und will ein Getränk bestellen, kommt es vor – so kommt es mir zumindest vor – dass ich nicht beachtet werde. Laufend werden Leute links und rechts von mir bedient, während ich vergeblich warte. Als wäre ich unsichtbar.
Beinahe eine Art Superkraft – nur nicht ganz so super. 

Aber macht nichts. Ich bin im Ausgang, ich habe Zeit. So bietet sich mir die Gelegenheit, das geschmeidige, präzise Arbeiten des Barpersonals zu bestaunen. Wie diese Leute in atemberaubendem Tempo Drinks mixen, Bier zapfen, Kaffee zubereiten (mit dekoriertem Milchschaum!), wie sie gleichzeitig Bestellungen aufnehmen und einkassieren, ohne sich je zu verrechnen und ungeachtet der Hektik bleiben sie stets freundlich und humorvoll.
Beeindruckend! Da noch ständig den Überblick zu behalten, wer als nächster drankommt, ein Ding der Unmöglichkeit. Zumal das gar nicht so klar ist. Eine Bar ist kein Postschalter. Die Gäste ziehen keine Nummern. Wird der, der am längsten wartet, als nächster bedient? Oder ist die Reihe an der Person, die den grössten Durst hat oder die am merklichsten auf sich aufmerksam macht? 

Neben mich parkieren sich zwei Damen. Energisch buhlt die eine um die Aufmerksamkeit des Barkeepers. Scheinbar kennt sie ihn. Sie flötet seinen Namen, zwinkert mit den Wimpern, winkt ihm zu, dass ihre opulenten Armreife klimpern. Mit Erfolg. Er fragt sie, was sie gerne hätte. In Anbetracht des Gedränges an der Bar macht sie eine unverschämt ausführliche Bestellung. Doch der Tausendsassa von Barmann hat alles im Hui
zubereitet und vor die Damen auf den Tresen gezaubert und noch während er einkassiert, fragt er endlich mich nach meinem Wunsch. Ich bestelle ein Bier. In eben diesem Moment kräht mir meine Barnachbarin ins Ohr, sie habe sich nicht etwa vordrängen wollen. Ich bin verwirrt. Dass sie das sagt, beweist doch, dass sie mir wissentlich den Vortritt genommen hat. Soll das etwa eine Entschuldigung sein?
Soll mich das trösten? Warum lügt die Frau mich an?

«Schon gut», lüge ich zurück und versuche ein Lächeln. Ich bin ein miserabler Lügner.

Dass mir solche Szenen einmal fehlen werden, hätte ich vor einem Jahr auch noch nicht gedacht.

Ganz ehrlich.

21.01.2021 :: Peter Heiniger