Den trüben Aussichten zum Trotz

Den trüben Aussichten  zum Trotz
Wenn man sich während Monaten fast nur in der Wohnung aufhält, kann es sein, dass man den blauen Himmel nicht mehr erkennt. / Bild: Bruno Zürcher (zue)
Covid-19: Das Virus und die damit einhergehenden Einschränkungen zu dessen Eindämmung gehen wohl an den wenigsten spurlos vorbei. In einer Video-Selbsthilfegruppe werden Ideen zusammengetragen, wie das Leben gestaltet werden kann.

Der Freitagabend ist ein Fixpunkt im Leben von Serge Bättig*. Von 19.00 bis 20.30 Uhr findet das Treffen der Video-Selbsthilfegruppe «Isolation und Einsamkeit in Zeiten der Corona-Pandemie» statt. «Es ist unglaublich, wie die Gruppe zusammengewachsen ist», berichtet Bättig. Dabei war er zunächst skeptisch, als er im Frühling auf das Angebot aufmerksam gemacht wurde. «Was will ich mit fremden Leuten meine Sorgen teilen?», ging ihm durch den Kopf. Er habe sich aber gedacht, wenn sich schon jemand die Mühe mache, ihm einen Tipp zu geben, dann versuche er die Sache. Im Frühling während des Lockdowns loggte er sich erstmals in die Video-Selbsthilfegruppe ein. «Am Anfang stellten sich alle kurz vor und erklärten, was sie von der Gruppe erwarten», berichtet Serge Bättig. «Obwohl die Menschen aus den verschiedensten Gegenden der Schweiz stammen und verschiedenen Alters sind, befinden sich viele in sehr ähnlichen Situationen. Beispielsweise leben eigentlich alle alleine.»

Natürliche Distanz als Vorteil

«Die Teilnehmenden sind zwischen 30 und 70 Jahre alt», sagt Thomas Burri. Der Leiter von «Selbsthilfe Luzern Obwalden Nidwalden» hat zusammen mit der Stiftung «Selbsthilfe Schweiz» die virtuellen Treffen ins Leben gerufen und die Gruppe zu Beginn moderiert. Auch heute übernehme er diese Funktion noch ab und zu, andernfalls würden mittlerweile Mitglieder die Gespräche leiten. Normalerweise finden die Treffen aller Selbsthilfegruppen physisch statt, die Covid-19-Pandemie zwang die Organisatoren zum Umdenken. «Wenn mal das Technische eingerichtet ist, haben Videokonferenzen auch Vorteile», hat der Sozialarbeiter die Erfahrung gemacht. «Durch die Distanz, die durch dieses Format gegeben ist, können sich manche rascher öffnen.» Das biete beispielsweise eher scheuen Personen Vorteile. «Und weil die Menschen aus der ganzen Schweiz stammen, muss man weniger Bedenken haben, dass einem plötzlich der Chef gegenübersitzt, was bei Selbsthilfegruppen auch mal vorkommen könnte.» 

Selbsthilfe Schweiz hat parallel mehrere Gruppen mit Bezug zur Corona-Pandemie lanciert; so auch eine Gruppe für Angehörige oder eine für Menschen mit Ängsten. «Dass die Gruppen nach wie vor aktiv sind und sich wöchentlich treffen, zeigt, dass das Bedürfnis gross ist», sagt Thomas Burri. «Je stärker die Einschränkungen desto grösser ist die Beteiligung.»

Viele Ideen gesammelt 

«Manche machen Yoga oder Qigong, um sich mit Meditation und den sanften Bewegungen zu entspannen», nennt der Moderator Beispiele, wie Menschen mit der aktuellen Situation zurechtkommen. «Ein Musiker, der in dieser Zeit natürlich keine Auftritte hatte, spielte den anderen Teilnehmenden ein Stück vor, das er eigens für sie komponiert hatte. Auch motivierte er sie, selber Musik zu machen oder zu singen. Andere wiederum haben begonnen, ihre Gedanken und Empfindungen einem Tagebuch anzuvertrauen.» Auch für Personen, welche zwar arbeiten können, aber sich beispielsweise seit Monaten im Home-Office befinden, sei die Zeit nicht einfach. «Was kann ich machen, damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt?» Sich draussen aufhalten sei für viele Menschen dieser Selbsthilfegruppe nicht einfach. Manche hätten körperliche Probleme, andere seien Risikopatienten und mieden möglichst jeden Kontakt. Auch Serge Bättig ist selten draussen. «Ich habe ständig Rückenbeschwerden. Weil ich zudem bezüglich Corona gefährdet bin, habe ich Angst, unter die Leute zu gehen», berichtet er. Eine Nachbarin habe ihn oft unterstützt, beispielsweise dort geputzt, wo er wegen der Rückenprobleme nicht hinkomme. Nun sei sie selber vom Virus betroffen. Die persönlichen Kontakte wurden dadurch noch weniger. Hinzu kommt, dass die wenigen Bekannten, die Serge Bättig hat, in Frankreich leben. «Da besteht schon die Gefahr, dass man sich besonders während der Feiertage alleine vorkommt», erklärt Bättig, der in dieser Zeit oft in Frankreich zu Besuch war und nun darauf verzichten wird. Kontakt mit anderen Menschen wird er trotzdem haben. Zum einen engagiert er sich ehrenamtlich bei einer Organisation, die sich um Menschen kümmert, welche alleine leben. Zum andern ist innerhalb der Selbsthilfegruppe ein Projekt entstanden, bei dem Menschen telefonisch kontaktiert werden. Die Kontakte würden ihn motivieren, auch selber Neues anzupacken, auch wenn er sich seit Monaten mehrheitlich in seiner kleinen Wohnung aufhalte. Auch freue er sich stets auf die Videokonferenzen am Freitagabend. 

Das Fenster zur Welt

«Für einige Menschen der Gruppe ist dieser Termin zurzeit das Fenster zur Welt», fasst Thomas Burri zusammen. Die Fragen, welche gestellt und diskutiert würden, wandelten sich auch immer. «Zunächst haben wir etwa über Nachbarschaftshilfe gesprochen und darüber, ob man überhaupt Hilfe annehmen soll. Die je nach Kanton unterschiedlichen Massnahmen wegen der Corona-Pandemie seien immer wieder ein Thema. Auch Angst kommt oft aufs Tapet. Werde ich jetzt krank? Werde ich in wirtschaftliche Probleme geraten? «Da ist es gut, jemanden zu haben, damit man erkennt, dass man nicht alleine dasteht.» 

«Selbsthilfe Schweiz» blickt schon voraus. «Wir werden eventuell mit einer Gruppe starten, die sich mit den Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung beschäftigt», sagt Thomas Burri. «Hier wächst zunehmend ein Bedürfnis.» 

*Name geändert.

Infos: www.selbsthilfeschweiz.ch

26.11.2020 :: Bruno Zürcher (zue)