Orte der Ruhe

Orte der Ruhe
Gebiete wie der Thalgraben haben für Menschen aus dem Mittelland viel zu bieten, auch ohne künstliche Attraktionen. / Bild: Bruno Zürcher (zue)
Emmental?–?Entlebuch: Die Stiftung Landschaftsschutz hat im Mittelland Gebiete gesucht, in denen Menschen Ruhe finden können – auch im Gebiet der «Wochen-­Zeitung» ist die Stiftung fündig geworden.

Die Sehnsucht nach Ruheorten ist in der Bevölkerung durch die Corona-Pandemie gestiegen. «Schweizer und Schweizerinnen zieht es vor allem in den Alpenraum, wo sie Gebiete mit einem hohen Ruheempfinden suchen», steht im Arbeitspapier «Tranquillity-Map». «Um die Hotspots im Voralpen- und Alpenraum zu entlasten, stellt sich die Frage, ob das Schweizer Mittelland, mit mehr als zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung eines der am dichtest besiedelten Gebiete Europas, auch ruhige Gebiete anbietet?» Das tut es. Im Gürtel vom Genfer- zum Bodensee haben Forschende der ETH Zürich 53 «Tranquillity»-Gebiete gefunden, welche je eine Grösse von mehr als fünf Quadratkilometern aufweisen – vier davon liegen am westlichen Rand der Region der «Wochen-Zeitung»: 

• Luterbach–Hasliberg (Fläche: 5,9 Quadratkilometer) in den Gemeinden Oberburg, Lützelflüh und Hasle.

• Biembach–Diepoldshusenegg–Bigenthal–Mänziwilegg (13,8) in den Gemeinden Hasle, Vechigen und Walkringen. 

• Obergoldbach–Geissrügge (5,6) in den Gemeinden Landiswil, Lützelflüh, Arni und Walkringen.

• Churzenberg (11,8) in den Gemeinden Linden, Oberhünigen, Mirchel, Zäziwil, Niederhüngen und Bowil. 

Kartierungen von Ruhegebieten, sogenannte «Tranquillity»-Gebieten, wurden bereits für andere europäische Länder durchgeführt, ist dem Papier weiter zu entnehmen. In der Schweiz wurden erstmals solche Flächen ausgeschieden. 

Raimund Rodewald, Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz, ist einer der Autoren der «Tranquillity-Map». Die Stiftung feiert heuer ihr 50-jähriges Bestehen. 


Herr Rodewald, führt die Corona-Pandemie dazu, dass die Menschen ihre unmittelbare Umgebung bewusster wahrnehmen?

Ich denke schon. Viele Menschen suchen ganz bewusst Gebiete auf, in denen es nicht viele Gebäude, Strassen oder inszenierte Attraktionen gibt – dafür viel Ruhe. Insbesondere wirkt eine natürliche Klangumwelt – singende Vögel, zirpende Insekten, plätschernde Bäche, säuselnde Winde – beruhigend. Auch den Blick über eine unverbaute Gegend schweifen zu lassen, tut gut. Dass die «Tranquillity-Map» jetzt fertiggestellt wurde, passt natürlich gut. Ruhe war bislang in der Raumplanung nie ein Thema.


Das Emmental und Entlebuch gelten in der Schweizer Bevölkerung als idyllische Gegenden. Teilen Sie diese Ansicht?

Zum Teil ist das sicher auch Klischee. Aber dank der vielen «Chrächen», dem vielen Wald und der einst kleinbäuerlichen Struktur wurden das Emmental und Entlebuch in der Siedlungsentwicklung weniger urbanisiert als etwa Gemeinden in den Agglomerationen. Im Talboden entlang der Verkehrsachsen ist die Siedlung in den letzten Jahrzehnten zwar gewachsen, aber in den meisten Orten in überschaubarem Mass. Die vielen engen Täler eignen sich schlicht nicht für riesige Überbauungen. Hinzu kommt, dass es in der Gegend keinen schönen, grossen See hat. Sonst wäre die Siedlungsentwicklung explodiert.  


Von Ihnen als Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz hatte ich mehr Kritik erwartet. 

Es gibt im Emmental und Entlebuch auch unschöne Entwicklungen. Da sind etwa die Industrie- und Gewerbezonen, welche an den Rändern der Dörfer angeordnet wurden. Oder die vielen grossen Erschliessungsstrassen zu den entlegendsten Bauernhöfen und Wäldern. Für die Bewirtschaftung sind Strassen, welche oft auch von Lastwagen befahren werden können, praktisch. Es ist aber auch so, dass der einzigartige Charakter der Landschaft verloren geht. Hinzu kommt, dass durch den Strukturwandel zig Bauernhöfe nicht mehr bewirtschaftet werden – die Strassen aber bleiben. Am Ende müssen die Gemeinden dann für verhältnismässig wenige Bewohner beispielsweise den Winterdienst aufrechterhalten. Da stellt sich schon die Frage nach der Verhältnismässigkeit. 


Der Strukturwandel in der Landwirtschaft wird weiter voranschreiten. 

Dass nicht mehr, wie vor hundert Jahren, gebauert wird, zeigt sich beispielsweise auch am Wald, welcher sich immer mehr ausdehnt. Die einzelnen Höfe und die Traktoren werden immer grösser. Die Landwirtschaftspolitik treibt diese Entwicklung immer weiter, statt neue Modelle zu finden. 


Was schwebt Ihnen diesbezüglich vor?

Die Landwirtschaft muss stärker an die Bevölkerung gebunden werden – momentan passiert das Umgekehrte. Der aktuelle Trend fördert ausgeräumte, eintönige Gegenden – die Bevölkerung wünscht sich aber eine vielfältige Landschaft. 


Eine naturnahe Landschaft lässt sich auch touristisch vermarkten, wie die Unesco Biosphäre Entlebuch (UBE) zeigt. 

Die Schaffung der Unesco Biosphäre Entlebuch war eine Pionierleistung; unsere Stiftung hatte dies unterstützt. Die Region machte aus einem wirtschaftlichen Nachteil, den vielen Moorflächen, einen Vorteil. In letzter Zeit ist aus meiner Sicht aber der Gedanke der Unesco – die Nachhaltigkeit – zu wenig gewichtet worden. Um den Tourismus zu fördern, wurde und wird zu viel in die Infrastruktur investiert. Naturtourismus kann man sich aber nicht mit neuen Bergbahnen erkaufen. Unsere Stiftung hat letztes Jahr eine ähnliche Landschaft, die Moorwälder der Ibergeregg im Kanton Schwyz, zur Landschaft des Jahres gekürt. Die Zusammenarbeit zwischen Kanton, Gemeinden und Privaten ist dort besser gelungen. Tourismus darf nicht in Kommerzialisierung enden.  


Wie meinen Sie das?

Ich kann das anhand eines aktuellen Trends erklären, den Bike-Trails, welche derzeit boommässig gebaut werden. Kurzfristig bringt das mehr Besucher. Die Biker wollen aber nicht über Jahre hinweg denselben Trail befahren und bleiben dann fern. Hinzu kommt, dass es oft zu Konflikten kommt mit Wanderern oder dass die Biker quer durch Wald und Wiesen fahren. Ich kenne Gegenden, welche bereits zurückkrebsen und die Bike-Routen wieder aufheben. 


Dass Flühli-Sörenberg den Tourismus intensiv fördern will, ist nachvollziehbar – zig Jobs sind davon abhängig.

Dennoch darf nicht alles dem wirtschaftlichen Gewinn untergeordnet werden. Schauen Sie sich mal das Dorf Sörenberg an, da ist alles «verferienhäuselt»! Das ewig gleiche Lied der Touristiker – «mit neuen Bergbahnen und neuen Angeboten locken wir mehr Besucher an» – wirkt auf mich reichlich hilf- und ideenlos. Wo steckt da der Gedanke der Nachhaltigkeit, wie er von der Unesco definiert wurde? Am Ende sehen die Gäste vor lauter Inszenierungen die Schönheit der Natur nicht mehr.  


Was kann der Einzelne unternehmen, damit die Ästhetik der Landschaft gefördert wird?

Spontan fällt mir ein, dass in den letzten Jahren bei vielen Häusern Schottergärten statt Naturgärten angelegt wurden. Schottergärten machen nicht viel Arbeit, allerdings wirken dann ganze Quartiere öde. Und das Wandern ist insbesondere bei jungen Leuten gefragt. Dazu braucht es
weniger Infrastruktur, sondern vor allem Natur.


Ein grosses Thema in Quartieren ist derzeit die innere Verdichtung. Die Stiftung Landschaftsschutz begrüsst diesen Trend sicher?

Grundsätzlich ja. Innere Verdichtung verlangt aber auch die Schaffung von Identitäten. Konolfingen zum Beispiel wirkt auf mich gestaltlos; das Dorf besteht aus einem wilden Sammelsurium privater Bauten. Was will Konolfingen sein? Dorf oder Stadt? Innere Verdichtung muss qualitativ sein, darin besteht die Chancen verlorene Identitäten wiederherzustellen. 


Nun haben Sie einige Kritik angebracht. Stört es Sie, dass die Stiftung Landschaftsschutz oft als Verhindererin dargestellt wird?

Unsere Stiftung hat eine grosse Akzeptanz. Bei Beschwerden erhalten wir in zwei Dritteln der Fälle recht. Der Wunsch nach intakten, attraktiven Landschaften ist in den Menschen vorhanden. Das stimmt mich positiv.

27.08.2020 :: Bruno Zürcher (zue)