Chronos und Kairos

Ich muss zugeben, dass das Mantra unserer 7-jährigen Tochter, um den lang ersehnten Schulstart zu bewältigen, ziemlich altklug daherkam: «Ig säge mer aube, aus het sini Zyt. Aber ds Warte uf d Schueu isch scho schwierig.» Natürlich hört man darin sofort eine erwachsene Stimme, die ein Kind mit der Begründung des unpassenden Zeitpunkts vertröstet. Ich werde zudem an einen meiner Lieblingstexte erinnert. Es ist eine biblische Reflexion auf den Zeitbegriff und findet sich im Buch Kohelet: «Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreissen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit.» (3,1?–?2) In der altgriechischen Sprache finden sich zwei Begriffe für die Zeit. Einerseits leben wir in der chronos. Damit ist eine gewisse Zeitdauer gemeint. Es ist die Zeit, die vorbeigeht und uns alle älter werden lässt. Andererseits gibt es den kairos. Mit diesem Begriff bezeichnet man eher einen Zeitpunkt und zwar im Sinne einer günstigen Gelegenheit oder eines richtigen Augenblicks. Das kennen Sie bestimmt auch aus Ihrem Alltag: Es gibt günstigere und ungünstigere Momente, um gewisse Dinge anzugehen. Kurz vor dem Mittagessen noch die Heissleimpistole installieren, um nur ganz kurz noch etwas fertigzumachen, kommt eigentlich nie gut. Abends den müden Kindern die am nächsten Tag anstehende Impfung ankünden, kann die Stimmung endgültig kippen lassen. Nur weil mir die Idee des richtigen Moments gefällt, heisst es nicht, dass ich ihn zielsicher erwische. Oft realisiere ich erst im Nachhinein, dass ich die Situation nicht richtig eingeschätzt habe. Aber wenn sich ein kairos einstellt, dann spürt man das meistens ganz genau. 

13.08.2020 :: Susanne Kühni (ksl)