Rechnen und bescheiden leben

Rechnen und bescheiden leben
Steht eine Investition an, etwa der Ersatz eines kaputten Staubsaugers, muss Tanja Z. noch besser rechnen als sonst und Geld dafür beiseitelegen. / Bild: Silvia Wullschläger (sws)
Serie «Eingeschränkt leben»: Hätte sie einen Wunsch frei, möchte Tanja Z. einen Monat lang unbeschwert leben: Ohne Sorge, dass das Geld nicht reichen könnte und ohne Angst vor einer Panikattacke.

Die Einschränkungen, mit denen Tanja Z. zu leben hat, sind eng miteinander verknüpft. «Begonnen hat alles vor neun Jahren. Plötzlich, aus dem Nichts, litt ich an Herzrasen, Schwindelgefühl und Enge in der Brust – das löste grosse Angst aus. Lange Zeit wusste ich gar nicht, was mit mir los war.» Nach vielen Arztbesuchen, bei denen körperliche Ursachen ausgeschlossen wurden, stand fest, dass Panikattacken der Grund für diese Symptome sind. Warum und woher diese kamen, weiss sie bis heute nicht. Fortan war ihr Leben eingeschränkt. Es war ihr nicht mehr möglich, in einen Bus oder einen Zug einzusteigen. Auch das Einkaufen wurde zur Tortur. Restaurants und Anlässe besuchte sie nicht mehr. «Es ist die Angst vor dem Kontrollverlust, welche die Panik auslöst», weiss die 29-Jährige heute. 

Dank Medikamenten konnte sie weiterhin als Sachbearbeiterin in einem Emmentaler Unternehmen arbeiten. Im August 2012 kam ihre Tochter zur Welt. «Lange hatte ich die Angstanfälle im Griff, bis es im 2014 wieder schlimmer wurde und ich mir psychologische Hilfe holte», erzählt Tanja Z. Das Arbeitspensum musste sie reduzieren. 2017 folgte ein stationärer Klinikaufenthalt. Als das Krankentaggeld auslief, musste sie sich beim Sozialdienst anmelden. Ihr IV-Antrag wurde abgelehnt. «Panikanfälle und Angst gelten nicht als Krankheit.» Seit vier Jahren lebt sie von ihrem Partner getrennt, sie teilen sich das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter. Heute arbeitet die Wahl-Emmentalerin zu 40 Prozent und lebt mit dem Existenzminimum.

Über den eigenen Schatten gesprungen

«Ich habe probiert, in einem höheren Pensum zu arbeiten. Das ging eine gewisse Zeit gut, ich konnte mich zusammenreissen, doch dann wurde die innere Anspannung zu gross und ich musste einen Rückschlag hinnehmen mit erneutem Klinikaufenthalt.» Sie habe lernen müssen. zu akzeptieren, dass sie in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei und den Lebensunterhalt nicht mehr vollständig selber bestreiten könne. «Das war schwierig, ich habe mich geschämt, Sozialhilfe beantragen zu müssen.» Doch schliesslich habe sie eingesehen, dass sie die finanzielle Unterstützung benötige, um ihre gesundheitliche Situation zu stabilisieren und ihrer Tochter eine normale Kindheit zu ermöglichen. «Es bringt nichts, wenn ich mich überfordere und dann wieder in die Klinik muss.»

Die Angst als Wegbegleiter

Mit der gesundheitlichen Einschränkung habe sie ein Stück weit zu leben gelernt, erzählt Tanja Z. Auch heute noch erlebe sie Anfälle von Panik, aber sie könne besser damit umgehen. Die Angst sei ihr Wegbegleiter, der sich immer wieder bemerkbar mache. Alltägliche Situationen wie Zug fahren, spazieren oder einkaufen gehen, forderten sie zwar noch heraus, stellten aber keine unüberwindbaren Hindernisse mehr dar. Anderes meidet sie, wenn möglich, nach wie vor: Menschenansammlungen wie an einem Hockeymatch oder in den Stosszeiten im ÖV, auch ein Geschäftsessen oder eine Theateraufführung der Tochter löst grossen Stress aus.

Tanja Z. hat sich Strategien gegen die Angst angeeignet. «Es hilft, Dinge ganz bewusst zu tun. Wenn ich spazieren gehe, was mir an schlechteren Tagen schwerfällt, probiere ich, den Boden unter meinen Füssen wahrzunehmen, an einer Blume zu riechen oder einen Baumstamm zu berühren. Wenn ich ganz im Hier und Jetzt bin, hat die Angst keinen Platz.» Auch achte sie auf Entspannung, nehme sich täglich eine kleine Auszeit, etwa um ein Bad zu nehmen oder eine Meditationsübung zu machen.

Knappe Finanzen schränken ein

Solche Strategien verfangen bei den finanziellen Einschränkungen, mit denen Tanja Z. leben muss, nicht. Dem knappen Budget ist mit Yoga nicht beizukommen, es beeinflusst den Alltag in vielen Bereichen: beim Einkaufen, in der Freizeit, bei Anschaffungen. «Geht der Staubsauger kaputt, stellt mich das vor ein grösseres Problem. Ich kann nicht einfach in den nächsten Laden spazieren und einen neuen kaufen. Zuerst muss ich das Geld beiseitelegen.» Auch ein Coiffeurbesuch erfolge nie spontan, sondern müsse wohlüberlegt sein. «Das heisst konkret, dass ich drei, vier Monate extra Geld dafür sparen muss.» Beim Kaufen von Kleidern steckt Tanja Z. oft zugunsten der Tochter zurück. Auch kostenpflichtige Freizeitaktivitäten wie der Besuch eines Zoos liegen nicht drin. «Da bin ich froh um die Gotte und den Götti, die meine Tochter regelmässig zu Ausflügen mitnehmen», sagt die Mutter. Ferien am Meer, wie es sich die Tochter sehnlichst wünsche, kämen natürlich auch nicht in Frage. «Wir machen eine Velotour, gehen wandern oder bräteln. Oder wir besuchen meine Eltern. Das sind auch schöne Erlebnisse», betont Tanja Z. Überhaupt mag sie nicht jammern. Bescheiden zu leben, bereite ihr keine grossen Schwierigkeiten, sie sei so aufgewachsen. Nach ihrem grössten Wunsch gefragt, muss sie eine Zeit lang überlegen. Aber schliesslich kommt ihr etwas in den Sinn: Einen Monat lang unbeschwert leben können. «Zum Coiffeur gehen, ohne rechnen zu müssen, mit der Tochter einen speziellen Ausflug unternehmen, ein Abendessen auf einer Terrasse geniessen, das wäre schön.» Weiter hoffe sie, dass ihr gesundheitlicher Zustand stabil bleibe und sie irgendwann wieder 50 oder 60 Prozent arbeiten könne. «Das wäre ein Riesenerfolg.»

Hoffen auf mehr Verständnis

Durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind nun plötzlich viele Leute mit Existenzsorgen konfrontiert. Tanja Z. erhofft sich dadurch mehr Verständnis für Menschen, die auf finanzielle Hilfe angewiesen sind. «Manche merken jetzt, dass es gar nicht so viel braucht, um plötzlich und unverschuldet in finanzielle Nöte zu geraten.» Auch sie habe früher nie gedacht, einmal Sozialhilfe beziehen zu müssen. Von gewissen Politikern fühle sie sich ungerecht behandelt und abgestempelt. Diese zeichneten das Bild von Schmarotzern, die in Saus und Braus lebten. «Das tut weh. Erstens entspricht es nicht der Realität und zweitens möchten viele Sozialhilfebezüger ihren Lebensunterhalt noch so gerne selber bestreiten. Aber manchmal geht es einfach nicht.»

Corona habe vielen Menschen auch aufgezeigt, wie schmal der Grat zwischen Gesundheit und Krankheit sei. Vielen schlage die Ungewissheit, das Gefühl des Ausgeliefertseins und die Angst vor einer Ansteckung auf die Psyche, was sie gut verstehe, sagt Tanja Z. «Für mich dagegen war die Zeit des Lockdowns eine Erleichterung, weil viel weniger Leute unterwegs waren. Für einmal hatte ich genug Platz. So hat auch etwas Negatives manchmal eine gute Seite.»

30.07.2020 :: Silvia Wullschläger (sws)