«Hie und da mussten wir durch eine finstere Röhre fahren»

«Hie und da mussten wir durch eine finstere Röhre fahren»
Die Rütliwiese auf einer Aufnahme von 1951. / Bild: zvg
Langnau: Unzählige Schulklassen besuchten die Rütliwiese auf ihrer Schulreise. Vor 90 Jahren war das ein grosses Ereignis, wie ein mehrteiliger Aufsatz eines Schülers aufzeigt.

Bereits 1859 trugen Schulklassen mit einer Sammelaktion dazu bei, dass die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft SGG die Rütliwiese kaufen konnte, die sie später der Eidgenossenschaft schenkte. Der Besuch des Rütli gehörte bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu den Klassikern unter den Schulreisen. 

In mehreren Aufsätzen schrieb Hans Kipfer aus Langnau über die Schulreise auf das Rütli, die er 1928 als Neuntklässler miterlebt hatte. Er wurde 1913 auf der Tanne in Langnau geboren. Die Schule besuchte er in Ilfis. Die Schwiegertochter von Hans Kipfer, Margrit Kipfer, hat anlässlich des 1. August die folgende Zusammenfassung aus den verschiedenen Aufsätzen erstellt.

«Dieses Jahr kann ich die sogenannte grosse Schulreise mitmachen. Die Reiseroute führt von Langnau nach Luzern und mit dem Schiff über den ganzen Vierwaldstättersee. Auf dem Rütli können wir dann eine kurze Zeit aussteigen. Dann fahren wir noch hinauf bis Flüelen und wieder zurück nach Brunnen. Von hier aus können wir auf den Axenstein. Im Hotel hier bekommen wir das Mittagessen. Dann gehen wir zurück nach Luzern. Dort werden wir noch den Gletschergarten besuchen, das Löwendenkmal und das Panorama betrachten.

Um 4 Uhr Tagwache

Die Reise war schon zweimal angesagt worden, aber jedes Mal regnete es. Nun ist es soweit. Am 10. Juni fahren wir. Den Proviant bin ich erst am Abend vorher einkaufen gegangen. Wir brauchten nicht viel mitzunehmen. Als ich alles parat hatte und an die Wanduhr schaute, war es schon 10 Uhr. Nun machte ich mich rasch unter die Decke. Am Morgen bin ich etwas vor 4 Uhr aufgestanden. Ich ging rasch zum Fenster, um zu schauen, was das Wetter für eine Miene mache. Da hat mir die Sonne schon in die Augen geleuchtet. Rasch zog ich meine Sonntagskleider an und setzte mich hinter den Morgentisch. Ich fragte die Mutter noch einmal, ob sie mir meinen Proviant eingepackt habe. Der bestand aus Schinkenbrötli, gesottenen Eiern und Sirup. Nun war es schon 10 Minuten nach 4 Uhr. Jetzt hängte ich rasch den Rucksack an den Rücken und nahm Abschied von Zuhause. Dann machte ich mich auf die Füsse. Wir mussten nämlich punkt halb 5 Uhr beim Schulhaus sein. Als ich zum Schulhaus kam, waren schon fast alle Schüler da. Punkt halb 5 Uhr machten wir uns fröhlich dem Bahnhof zu. Als wir da angekommen waren, war der Bahnhof schon fast von Schulen gefüllt. Unser Extrazug war auch schon parat.

Viertel vor 5 Uhr mussten wir uns auf dem Perron 1 im Bahnhof sammeln. Nun eilten wir dem Eisenbahnwagen zu. Jedes wollte zuerst den Wagen besteigen und den schönsten Platz haben. Wir wurden im viertvordersten Wagen platziert. 

Andere Bauernhäuser im Entlebuch

5 Minuten nach 5 fuhren wir mit fröhlichem Jubel von Langnau dem «Länder» zu. Die Sonne schien schon heiss in unseren Eisenbahnwagen hinein. Beim Bahnhof Trubschachen und in Wiggen hielt er noch an, weil noch Sekundarschüler einsteigen wollten. Hie und da mussten wir durch eine finstere Röhre hindurch fahren, denen sie Tunnel sagten. Solche waren zirka 15. Die Stecke von hier bis Luzern fuhren wir ohne Anhalt. In Malters sah ich einmal die gewaltige Mühle, in der in einem Tag für einige 1000 Fr. Getreide gemahlen wird. Das Schönste vom ganzen Entlebuch war, dass wir hie und da noch einen prächtigen Berg, der im Glanz der aufsteigenden Sonne stand, sahen. Was mir besonders auffiel war, dass die Bauernhäuser nicht die gleiche Bauart haben wie bei uns im schönen Emmental.

Umsteigen auf die Viktoria

Plötzlich war unser Zug mit uns im letzten Tunnel. Als wir den durchfahren hatten, stand vor unsren Augen schon die wunderbare Stadt Luzern. 6.34 Uhr langten wir reiselustigen Langnauer Schüler hier an. Wir machten Augen, als wir diesen riesigen Luzerner Kopf-Bahnhof durchschreiten konnten. Wir konnten uns aber nicht lange aufhalten, weil schon um 6.45 Uhr unser Extraschiff abfahren wollte. Bald hatten wir den prächtig spiegelnden Vierwaldstättersee erreicht, wo unser Extraschiff mit dem Namen Viktoria parat stand. Das gab einen Jubel als wir einsteigen durften und sich das Schiff in Bewegung setzte. Weil wir ein Extraschiff hatten, durften wir alles besichtigen. 

Am Schillerstein vorbei

Bald stand der Bürgenstock mit der steilen Bahn majestätisch vor uns. Wir näherten uns der Ortschaft Buochs und Beckenried. Bald fuhr unser Schiff am grossen Schillerstein vorbei. Das ist ein Gedenkstein an den grossen deutschen Klassiker Friedrich Schiller, der die Gründungsgeschichte unserer Eidgenossenschaft im Drama Wilhelm Tell wunderbar geschildert hat. Von diesem Punkt aus sahen wir prächtig auf Brunnen hinüber. 

Plötzlich stand unser Schiff still und es hiess aussteigen. Wir waren an der Rütli-Station angelangt. Nun mussten wir ein Stücklein den Berg aufwärts steigen. Bald kamen wir auf eine ebene Wiese, die auch uns Schulkindern gehört, auf das Rütli. Hier hielt Herr Pfarrer Trachsel eine Ansprache. Nachher sangen wir Schüler das Lied «Freiheit, die ich meine». Dann konnten wir noch die Gegend besichtigen. Fast senkrecht über uns stand das Hotel Seelisberg.

30.07.2020 :: Margrit Kipfer (kmb)