Urne statt GV: die Bedenken überwiegen

Urne statt GV: die Bedenken überwiegen
Grosshöchstetten wäre die erste Gemeinde im Kanton Bern, die alle Geschäfte an der Urne beschliessen würde. / Bild: Jürg Kühni (JKB)
Grosshöchstetten: Die Freien Wähler wollen die Gemeindeversammlung abschaffen. Gemäss einer Umfrage findet die Mehrheit der Ortsparteien das keine gute Idee.

Die Freie Wählergruppe Grosshöchstetten (FWG) will die Urform der direkten Demokratie, die Gemeindeversammlung, zu Grabe tragen. Künftig sollen alle Entscheide an der Urne gefällt werden. Bei einem Ja an der Urnenabstimmung vom 9. Februar zur Initiative der FWG wäre Grosshöchstetten die erste Gemeinde im Kanton Bern, welche diesen Systemwechsel vollzieht.


Mehr Inklusion an der Urne

Die Pro-Argumente der FWG sind bekannt: Dank höherer Stimmbetei­ligung seien Entscheide besser legitimiert. «Weil an den Versammlungen der Meinungsaustausch oft gehemmt ist, kommt zudem selten eine konstruktive Diskussion auf», findet die FWG. Dieser Austausch sei durch Orientierungsversammlungen und Mitwirkungsverfahren besser gewährleistet. Ebenso sei die Inklusion aller Stimmberechtigten theoretisch möglich. Einzig höhere Verwaltungsaufwände sprächen gegen Urnenabstimmungen. Auch die EVP empfiehlt ein Ja zur Initiative. Stimmberechtigte, die abends einer Arbeit nachgehen würden oder Betreuungsarbeit leisteten, könnten so an der Urne abstimmen. «Problematisch sehen wir auch das Taktieren an den Gemeindeversammlungen», schreibt die EVP. Oft würden Gruppen für einzelne Geschäfte gezielt mobilisiert. Zudem seien die Diskussionsmöglichkeiten während der Versammlungen eingeschränkt.


Mehr Dialog an der GV

Zwar gibt die Mitte keine Stimmempfehlung ab, doch es überwiegen die Argumente gegen die Initiative. «An der Gemeindeversammlung werden die Geschäfte im Dialog mit dem Gemeinderat bereinigt und beschlossen», schreibt die Partei. Die Entscheid­findung sei somit nachvollziehbar. Im Weiteren könnten an der Versammlung auch nicht traktandierte Anliegen eingebracht werden. Auch die Mitte erachtet zudem die höheren Kosten einer Urnenabstimmung als Nachteil. Gegenwind kommt ebenfalls von der SVP, welche ein Nein zur Initiative empfiehlt. Der einzige Vorteil der Urnenabstimmung liege in der Anony­mität. Gegen die Urne sprächen der fehlende direkte Austausch von Argumenten und die fehlenden Debatten zwischen den Stimmberechtigten. «Die Identifikation mit der Gemeinde durch gemeinsames Engagement geht verloren», so die SVP. Zudem würde die Möglichkeit dahinfallen, spontan Anpassungen oder Vorschläge einzubringen. Und nicht zuletzt generierten Urnenabstimmungen mehr Verwaltungsaufwand.


Mehr tun für bessere Beteiligung

Die SP gibt keine Stimmempfehlung ab. «Zwar können wir die grundsätzlichen Anliegen der Initiative - bessere Partizipation der Bürgerinnen und Bürger am politischen Prozess - nachvollziehen. Aber in der Abschaffung der Gemeindeversammlung sehen wir keine Verbesserung», schreibt die SP. Die Möglichkeit, Anträge zu stellen und diese im Plenum zu diskutieren, falle dahin. «Mit einfachen Massnahmen», so die SP, «kann die Beteiligung an den Gemeindeversammlungen verbessert werden: Termine und Zeiten sollen flexibel angesetzt und so auf die Bedürfnisse von Familien mit Kindern angepasst werden.» Dazu gehöre auch, die Wochentage der Versammlungen zu variieren. Im Weiteren solle im Vorfeld kom­petent und umfassend über die Geschäfte informiert werden. «Zudem verlangen wir ein online zugängliches Protokoll der Versammlung.» Dieses Anliegen sei jedoch vom Gemeinderat abgelehnt worden. 

«Wir haben die Abstimmung im Vorstand nicht besprochen», so Adrian Corbetti, Präsident der FDP, «weshalb wir auch keine Argumente pro oder kontra dazu abgeben.» Man habe in der FDP deshalb Stimmfreigabe für den Urnengang vom 9. Februar beschlossen.

10 Luzerner Gemeinden haben GV abgeschafft

Den Systemwechsel von der Gemeindeversammlung zu Urnen-abstimmungen vollzogen haben zehn Luzerner Gemeinden; so 2023 auch Meggen. Hier wurde eine Initiative der SVP, gegen dem Antrag des Gemeinderates, äusserst knapp angenommen. Hauptargument war gemäss Gemeinderat Lukas Portmann (GLP) die bessere Repräsentanz und damit die Akzeptanz durch die höhere Stimmbeteiligung. Neu würden nun je eine Orientierungsversammlung vor der Abstimmung zum Budget und zur Rechnung durchgeführt. «Diese Veranstaltungen werden gut besucht, und in diesem Sinne ist der Übergang gelungen», stellt Portmann fest.

Urne statt GV - die Sicht des Wissenschaftlers

Ursin Fetz ist Institutsleiter am Zent-rum für Verwaltungsmanagement an der Fachhochschule Graubünden. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Gemeindeorganisation. Fetz sieht den grössten Vorteil von Gemeindeversammlungen - über 80 Prozent der Schweizer Gemeinden verfügen über diese Institution - in der Kombination von Information und Debatte. «Obwohl wissenschaftlich nicht erhärtet», sagt Fetz, «hat dieser direkte Austausch eine grosse soziale Bedeutung für eine Gemeinde.» Die Abschaffung von Gemeindeversammlungen führe aus juristischer Sicht zu einem Demokratiedefizit, weil keine Änderungsanträge mehr möglich sind. Der häufig vorgebrachte Vorwand, das Wahl- und Abstimmungsverhalten an Gemeindeversammlungen sei geritzt, entkräftet er. Selbst das Bundesgericht habe festgestellt, man könne nicht von verfälschten Ergebnissen sprechen. «Aber», räumt Ursin Fetz ein, «Tatsache ist auch, dass die Beteiligung an Gemeindeversammlungen nach wie vor rückläufig ist.» Die Beteiligung variiere zwischen knapp über 20 Prozent in den Kleinstgemeinden und zwei bis drei Prozent in den grossen Gemeinden. «Und die Talsohle ist noch nicht erreicht», stellt Fetz klar.

30.01.2025 :: Daniel Schweizer (sdl)