Menschen sind ihr wichtiger als Dinge

Menschen sind ihr wichtiger als Dinge
Hätte nie gedacht, 100-jährig zu werden: Erika Martin-Grether / Bild: zvg
Langnau: Heute Donnerstag kann Erika Martin-Grether ihren 100. Geburtstag feiern. Sie blickt auf ein bewegtes Leben und liebt nach wie vor den Kontakt zu anderen Menschen.

«Ich brauche nicht mehr viele Dinge», sagte Erika Martin-Grether beim Umzug ins Dahlia Lenggen vor fünf Jahren: den hochlehnigen Stuhl, die Pendule – das feine Parfüm. Ihr Herz hat sie stets an Menschen gehängt,
nie an Dinge. So ist es ihr ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes leichtgefallen, das Haus zu verkaufen und in eine kleine Wohnung zu zügeln. Hier fand die 89-jährige kontaktfreudige und auf Selbstständigkeit bedachte Frau rasch Anschluss an Nachbarschaft und die Familie im Haus.

Vor kurzem ist Erika Martin um­gefallen. Statt mit dem Rollator durch den Korridor zu spazieren oder den Garten zu geniessen, zieht sie es vor, zu liegen. Nein, nie hätte sie gedacht, 100-jährig zu werden. Sie schmunzelt, freut sich aufs Fest, hat keine Wünsche. Gefragt, was ihr wichtig ist, antwortet sie versonnen: «Das kann ich nicht sagen – wichtig ist immer wieder etwas anderes.»


«Die Stadt war mir zu laut»

Das passt zum Leben dieser Frau, deren Gesicht von vielen Fältchen durchzogen ist, die strahlt, auch wenn sie kaum mehr etwas sieht. Stets hat sie Wichtiges schnell entschieden: beispielsweise eine kaufmännische Lehre zu machen, nach dem Krieg ein Jahr lang in England zu leben oder nach 30 bewegten Jahren in Zürich 1954 aufs Land – ins Emmental – auszuwandern. Damit ging sie den umgekehrten Weg ihrer Eltern, die 1923 aus dem Baselland der Arbeit wegen nach Zürich emigrierten. «Du kommst bald zurück», sagten ihre Kolleginnen. Sie, die versierte Fremdsprachensekretärin, werde sich auf dem Land langweilen. «Die Stadt war mir zu laut», erinnert sich Erika Martin. Gemeinsam mit der 30-Jährigen reiste auch ihr ebenfalls aus dem Baselland stammender Verlobter ins Emmental. Er trat die Buchdrucker-Stelle im «Blettli» (Emmen­thaler Blatt) an und das Paar heiratete. In Langnau fanden Erika und Leo Martin-Grether Freunde und eine gute Umgebung für ihre drei Kinder.


Charme und Selbstbehauptung

Ihrer Familie mit vier Gross- und zwei Urgrosskindern gehört ihr grosses Herz. «Sie kennen mich!» Das ist für Erika Martin wichtig, denn sie kennt sich zuweilen nicht mehr aus. Der demenziellen Erkrankung zum Trotz hat sie wunderbare Eigenschaften bewahrt: Schalk und Charme, Lebensmut und Selbstbehauptungswille. Sie kann laut werden, wenn sie sich nicht verstanden fühlt, und tief empfundene Dankbarkeit zeigen.

08.08.2024 :: egs