Wer keine Umarmung will, hat das Recht, Nein zu sagen

Wer keine Umarmung will, hat das Recht, Nein zu sagen
An einem Posten im Parcours üben Kinder, laut und deutlich Grenzen zu setzen. / Bild: Kinderschutz Schweiz
Langnau: Wie kann man Kinder vor sexuellen Übergriffen schützen? Wichtig ist, sie zu sensibilisieren und zu informieren. Zum Beispiel mit Hilfe des Parcours «Mein Körper gehört mir».

«Nein!» So ertönt ein lauter und bestimmter Schrei. Zwei Mädchen stehen vor einem Bildschirm. Sie haben die Aufgabe, Nein zu rufen, sobald in der abgespielten Geschichte etwas Unangenehmes passiert. Gerade wurde einer Figur ungefragt in die Haare gegriffen. Das Nein der Zuhörerinnen ist für den Lautstärkenmesser laut genug. Denn nur dann stoppt die Geschichte und die Aufgabe ist erfüllt. Die sogenannte Schreikabine ist einer von sieben Posten des Parcours «Mein Körper gehört mir». Die spielerische und interaktive Wanderausstellung für Kinder ist ein Präventionsangebot gegen sexualisierte Gewalt der Stiftung Kinderschutz Schweiz.


Wissen schützt

Dieses Jahr holte die Schulsozialarbeit Oberes Emmental in Zusammenarbeit mit der Schule und der offenen Kinder- und Jugendarbeit die Ausstellung erstmals nach Langnau. Alle Kinder der ersten und zweiten Klassen von Langnau besuchten den Parcours mit ihren Lehrpersonen. Zusätzlich wurden ein Elternabend und ein öffentlicher Nachmittag durchgeführt. «Es geht darum, zu informieren und die Kinder zu stärken», sagt Schulsozialarbeiterin Diane Nicolet.

An den Posten wird zum Beispiel geübt, Körperteile richtig zu benennen oder die eigenen Gefühle zu beschreiben. Die Kinder erfahren, dass es gute, schlechte und komische Berührungen gibt und dass man zwischen guten und schlechten Geheimnissen unterscheiden muss. Mit einem Labyrinth-Kugelspiel wird thematisiert, wie man sich bei schlechten Erfahrungen Hilfe holen kann, und dass dies – ebenso wie die Kugel ins Ziel zu balancieren – manchmal nicht im ersten Versuch gelingt. Sexualisierte Gewalt wird im Parcours in einer einzigen Situation beschrieben.


Prävention beginnt möglichst früh

«Kinder müssen erst lernen, ihre Grenzen wahrzunehmen und was Grenzüberschreitungen sind», erklärt Noemi Friedli, Beraterin bei der Fachstelle Opferhilfe Lantana Bern. Das gelinge, wenn auch im Alltag Nähe und Distanz thematisiert werde, die Kinder ein Körperbewusstsein entwickeln könnten und sagen dürften, wenn ihnen zum Beispiel eine Umarmung unangenehm ist. Der Parcours richtet sich daher bereits an junge Kinder. «Prävention beginnt im Idealfall möglichst früh», bestätigt Friedli. Auch weil kleine Kinder besonders gefährdet seien, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. «Sie sind noch wenig informiert und können negative Erfahrungen nicht mitteilen.» Die Expertin plädiert dafür, dass man altersgerecht auch über konkrete Gefahren spricht. Wichtig sei aber, dass man Kinder zuerst aufkläre, fügt sie an. «Sie sollen wissen, dass Sexualität grundsätzlich etwas Schönes ist.»


Umfeld sensibilisieren

Nur mit den Kindern zu sprechen, genügt nicht. «Wir Erwachsenen müssen die Verantwortung übernehmen», sagt Friedli. Für eine wirksame Prävention sei es entscheidend, dass auch Eltern, Lehrpersonen sowie Verantwortliche in Freizeitorganisationen und Vereinen für das Thema sensibilisiert seien. «Nur so können wir die Hürden für die Tatpersonen erhöhen», so Friedli. Denn Kinder könnten sich nicht alleine vor sexuellen Übergriffen schützen. Und sie hätten niemals Schuld. Den Aspekt des Selbstvertrauens nimmt der letzte Parcoursposten auf. Die Kinder öffnen eine Kiste mit dem Versprechen, darin das Wertvollste auf der Welt zu finden. Im integrierten Spiegel sehen sie – sich selbst.

Sexualisierte Gewalt an Kindern ist weit verbreitet

Von sexualisierter Gewalt spricht man, wenn sexuelle Handlungen an, mit oder vor einem Kind vorgenommen werden. Laut der Stiftung Kinderschutz Schweiz erlebt jedes siebte Kind in der Schweiz in seiner Kindheit mindestens einmal sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt. Sexualisierte Gewalt ohne Körperkontakt – wie sexualisierte Blicke und Worte, exhibitionistische Handlungen oder das Zeigen von pornografischem Material, erlebe sogar fast jedes dritte Kind. Mädchen seien doppelt so häufig betroffen wie Jungen. Oft würden die Tatpersonen aus dem nahen sozialen Umfeld der Kinder kommen, schreibt die Stiftung. «Die Übergriffe beginnen meistens subtil und werden den Kindern anfangs als Spiel verkauft», sagt Noemi Friedli von Lantana, Fachstelle für Opferhilfe. «Oft werden die Grenzüberschreitungen ausgeweitet, wenn niemand reagiert.»

04.07.2024 :: Regine Gerber (reg)