Maya Pfenninger packt bei der Ernte an und engagiert sich für das Emmentaler Kulturgut. / Bild: Karl Johannes Rechsteiner (kjr)
Emmenmatt: Zwei Dutzend Bauern im oberen Emmental ernten grosse Büschel Chörblichrut. Tags darauf wird aus der Süssdolde ein besonderes Wässerchen destilliert.
Mancher Kofferraum ist prall gefüllt mit grossen Krautbüscheln, die dem Kerbel ähneln. Die Dolden geben einen süsslichen Duft ab. Von gut 20 Bauernhöfen und Högern des Emmentals treffen Lieferungen bei Maya Pfenninger in der Moosbadhöhle oberhalb von Emmenmatt ein. Die Autos bringen Chörblichrut von Schüpbach oder Schangnau, aus Landiswil und Linden, von Walkringen bis Utzigen. Eine halbe Tonne des wohlriechenden Heilkrauts häuft sich an. Es gibt Kaffee und Kuchen für die Lieferanten, und die ganze Familie von Geschwistern bis Grossmutter Emmi Salzmann packt an: Ernten, Sammeln, Sortieren, Häckseln und am nächsten Tag ab in die Brennerei Kramer in Heimiswil. Das Kraut wird mit frischem Quellwasser angesetzt und in der Brennerei gekocht, bis das leicht milchige Chörblichrut-Wasser mit seinen heilsamen ätherischen Ölen aus dem Rohr tropft. Gebrannt wird es als gings um Schnaps, und getrunken wird ein Likörgläsli voll vor dem Zmorge. Das alte Hausmittel ist alkoholfrei.
Antibakteriell
Schmeckt es ein bisschen nach griechischem Ouzo, nach Änis-Schnaps oder Fencheltee? Das aus der Myrrhis odorata gewonnene Destillat wurde in der Geschichte als Hausmittel gegen fast alle Gebresten eingesetzt: gegen zu hohen Blutdruck, Schwindel, Krämpfe, Blähungen oder eine kommende Grippe. Auch äusserlich kann das Wunderwasser offenbar wirken: bei Hautausschlägen oder muskulären Problemen. Schon Volksschriftsteller Jeremias Gotthelf nahm sich bei «Anne Bäbi Jowäger» dem Chörblichrut an. In seiner Streitschrift gegen Quacksalberei und Aberglauben warf er allerdings einen kritischen Blick aufs Wunderwasser. Er thematisierte eine kränkliche Frau, für die Heiraten eigentlich gesünder gewesen sei als das Trinken von Chörblichrut. Doch die Inhaltsstoffe des Hydrolats enthalten durchaus auch medizinisch wirksame antibakterielle Eigenschaften. So schneidet Pfenninger nicht nur jedes Jahr selber manchen Arm voll von der Duftmyrrhe, koordiniert das Destillieren und lagert grosse Korbflaschen voller Chörblichrutwasser. Sie mischt auch ein Gel und eine Salbe zur äusseren Anwendung auf der Haut. Maya Pfenninger freut sich über die Auferstehung des Volkshausmittels, kommt mittlerweile aber kaum mehr nach mit der Produktion. Denn die Nachfrage nach den Erzeugnissen aus der Süssdolde steigt. Auch wenn das Chörblichrut angesichts heutiger Verordnungen nicht als Heilmittel vermarktet werden darf, ist es doch als kulinarisches Erbe der Schweiz anerkannt.
Eine Perle
So verbreitet sich das Chörblichrut ohne heutiges Marketing wie seit Jahrhunderten weiter: von Mensch zu Mensch weiterempfohlen, als Setzling verkauft, als Wildkraut im Salat genossen oder als Wasser und Salbe täglich gebraucht. Die duftende Staude sucht sich schattige, feuchte Plätze und Felder – und engagierte Leute, die diese Emmentaler Perle immer wieder aufblühen lassen.