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Mondgedanken

Heute ist Vollmond. Bei klarem Himmel können wir sehen, wie er abends am Horizont aufgeht gegenüber der Stelle, wo davor die Sonne untergegangen ist.

«Seht ihr den Mond dort stehen?», fragte der Dichter Matthias Claudius vor 245 Jahren in dem wohl berühmtesten aller deutschen Abendlieder: «Der Mond ist aufgegangen» (Reformiertes Gesangbuch Nr. 599).

Wir befinden uns mitten im Zeitalter der Aufklärung. Das Denken der Menschen in Europa orientiert sich mehr und mehr an den Naturwissenschaften.
Die Vernunft ist der Massstab, nach dem geurteilt wird. In krassem Gegensatz dazu wird drei Jahre später in Glarus Anna Göldin als letzte Hexe Europas hingerichtet. Weitere sieben Jahre später bricht in Paris die Revolution aus. Und da, am Vorabend grosser Umstürze in Europa, lädt Matthias Claudius ein, den Mond zu betrachten. In der Abenddämmerung, wenn der Nebel aus den Wiesen steigt, wird manches unscharf. Beim Sinnieren über den Mond kommt Claudius aber auf nüchterne und klare Gedanken über die Grenzen menschlichen Strebens. «Wir spinnen Luftgespinste» – und können den Mond doch nur zur Hälfte sehen. Die dunkle, von der Sonne abgewandte Seite des Mondes bleibt uns verborgen. «...?und kommen weiter von dem Ziel.» Haben wir es aus den Augen verloren? «Lass uns einfältig werden» – über dieses Wort
stolpere ich, seit ich das Lied kenne und meinen Kindern abends vor dem Einschlafen vorgesungen habe. Einfalt statt Vielfalt? Vielleicht eher: gradlinig und fokussiert statt zerstreut und verzettelt. Denn schon in der nächsten Strophe zeigt sich: Alles Leben strebt dem einen Ziel zu, und dieses liegt im grossen Ganzen, das Claudius «Himmel» nennt. Dort, an unserem ganz irdischen Himmel, ist soeben der Mond aufgegangen. Sein Anblick, zusammen mit den goldenen Sternen, lenkt unsere Sinne auf das, was jetzt, in diesem Moment, wichtig ist: ein ruhiger Schlaf, auch für die kranke Nachbarin.

25.01.2024 :: Kathrin van Zwieten