Kinder werden?!

Er muss wieder gefüllt werden, wie jedes Jahr – der Adventskalender unserer fünf inzwischen erwachsenen Kinder. Der Älteste hat den Streichholzschachtelkalender bereits 23 Jahre. Die kleinen Schachteln sind ausgeleiert, und es ist inzwischen eine Kunst, sie so zu füllen, dass der Inhalt nicht rausfällt. Es ist immer dasselbe Ritual in der Nacht zum 1. Dezember: Mein Mann und ich steigen auf den Dachboden, balancieren die grosse Kartonschachtel mit den fünf verschiedenen Kalendern die Treppe hinunter, legen sie sorgfältig auf den Stubenteppich und schieben mit grösster Konzentration, um ja keine zu vergessen, die verschiedenen Süssigkeiten in die Streichholzschachteln. Und ja, manchmal kullert noch ein im letzten Advent verharrtes Gummibärchen oder ein sitzen gebliebener Schokoladentaler aus der einen und andern Schachtel. Ob es die Kalender wirklich noch braucht? Und ob das inzwischen nicht allzu erwartbar sei, frage ich meine Kinder jedes Jahr. «Oh nein, das gehört dazu! Ohne Adventskalender keine Weihnachten!» Also haben wir sie auch dieses Jahr spät in der Nacht zum 1. Dezember wieder gefüllt – wie all die Jahre, und wie wir es im kommenden Jahr auch wieder tun werden. Ob ich wisse, warum das eigentlich so sei, jeden Tag ein Törchen öffnen, hatte mich letzte Woche ein Patient auf der Psychotherapiestation der Klinik gefragt, nachdem er im Gang die Nummer 4 des Stationskalenders geöffnet und die Schokolade daraus genascht hatte. Ich war etwas verunsichert, ja, warum eigentlich? Ist es unsere eigene kindli­che Verspieltheit, die wieder erwacht? Elterliches Pflichtgefühl oder doch nur eine  «Gschäftlimachete»? Der Patient lächelte und meinte dann sehr ernst: Er habe den sehr tiefen Sinn von Adventskalendern bei seiner Fünfjährigen gelernt, als er mit ihr neulich durch den Weihnachtsmarkt schlenderte. Als Zvieri habe sie sich einen grossen Schokoladeengel ausgesucht und wollte – noch kauend und mit schokoladeverschmiertem Mund – noch einen. Er habe die Kleine mit allerlei Erklärungen auf den nächsten Tag vertrösten wollen, bis sie ungeduldig wurde und meinte: «Das sagt Mami auch immer – morgen, morgen, morgen! Aber was morgen sein wird, das wissen wir doch gar nicht. Wir wissen nur was heute ist, und deshalb möchte ich bitte jetzt sofort einen zweiten Schokoladeengel Papi!» Jeder Tag ein Tor zum Augenblick. Dafür lohnt es sich, wieder etwas zu werden wie die Kinder.

14.12.2023 :: Patrizia Weigl