Die Siegergeschichte: Lichter

Die Siegergeschichte: Lichter
Ein leises Winseln ist zu hören. «Hier ist es», rufst du. / Bild: Elio Stettler (ese)
Emmental: Rund 50 Geschichten wurden am 2. Kurgeschichten-Wettbewerb der «Wochen-Zeitung» eingereicht. Gewonnen hat jene von Peter Heiniger aus Oberfrittenbach.

Ich starte den Countdown.

Zehn.

Kontrollleuchten blinken. Ich betätige ein paar Schalter seitlich, vor und über mir. Ein Blick auf die Armaturen. Alles im grünen Bereich.

Neun.

Die Sicherheitsgurte sitzen satt.

Die Kabine beginnt leicht zu vibrieren.

Acht.

Es ist warm hier drin und es riecht muffig. Ich schwitze. Man hätte bei der Entwicklung dieser Maschine dem Belüftungssystem etwas mehr Aufmerksamkeit schenken dürfen.

Sieben.

Ich wende meinen Kopf zu dir. Unsere Blicke treffen sich. Wir nicken uns kurz zu. Das tun wir immer bei der Sieben. Das bringt Glück, sagst du. Und etwas Glück kann für unsere Mission nicht schaden.

Sechs.

Die wievielte gemeinsame Mission ist das jetzt? Ich habe aufgehört, zu zählen. Dennoch, Routine wird es nie. Wir sind ein eingespieltes Team, du und ich. Vater und Kind. Für gewöhnlich sind Kinder nicht zugelassen. Viel zu gefährlich. Aber du bist kein gewöhnliches Kind. Du bist das Kind, dem wir die Möglichkeit des Zeitreisens überhaupt verdanken. Schliesslich hast du diese Maschine entwickelt. Du bist…

Fünf.

Ich muss mich fokussieren. Wir haben schliesslich eine Mission zu erfüllen.

Vier.

Das Vibrieren schwillt an zu ohrenbetäubendem Dröhnen.

Drei.

«Guten Flug!», brülle ich gegen den Lärm an.

Zwei.

«Wir sehen uns 2222!», brüllst du zurück.

Eins.

Ich schliesse die Augen.

Ich halte den Atem an.

Null.

Ein heftiger Ruck presst uns in die Sitze. Gleich darauf fühlt es sich an, als würden wir mit Wucht abwärts gezogen. Die Sicherheitsgurte verhindern, dass wir an der Decke zerschellen. Abrupter Richtungswechsel. Wir rasen jetzt rückwärts. Temporale Turbulenzen rütteln uns durch, bis uns beinahe Hören und Sehen vergehen. Jetzt werden wir von den Zehen ausgehend jäh in die Länge gezogen. Schon sind wir dünn, wie Spaghetti. Und noch weiter werden wir gedehnt. Unsere Füsse sind längst ausser Sichtweite. Erst als wir dünner sind als ein Haar, verlangsamt sich der Vorgang, kommt zum Stillstand und – Sprazoooing – schiessen wir in die entgegengesetzte Richtung, werden platt gedrückt zu einer unmessbar grossen Fläche, um sogleich zu zerfasern und uns in einem wilden Wirbel neu zusammenzusetzen.

Verdammt, ich hasse diesen Teil des Zeitreisens. Du aber liebst ihn.

Begleitet von einem langgezogenen Zischen kommt unsere Kapsel endlich zum Stehen.

«Das war fantastisch!», lachst du glucksend. «Lass mich rasch die Systeme neu karlibieren,»

Jetzt muss ich auch lachen.

«Was?», fragst du.

«Es heisst ‹kalibrieren›», korrigiere ich dich.

«Sag ich doch», sagst du und dann, unvermittelt wieder ernst: «Bist du bereit?»

«So bereit, wie man sein kann», sage ich.

«Dann mal los.»

Du drückst einen Knopf. Die Tür zum Cockpit öffnet sich. Unerträgliche Hitze schlägt uns entgegen. Habe ich mich beschwert, dass es in der Zeitmaschine stickig ist? Jetzt wünsche ich mir die angenehme Kühle von vorhin zurück.

Wir klettern nach draussen. Der Wind fährt uns in die Haare und zerrt an unseren Overalls. Ich ziehe mir ein Tuch über Mund und Nase, als Schutz gegen den Flugsand. Du tust es mir gleich. Vor uns erstreckt sich eine weite, wüste Landschaft. Kümmerlich dürre Grasbüschel beugen sich unter glutheissen Böen, die über alles hinwegfegen. Staubteufel tanzen hie und da auf und fallen wieder in sich zusammen. In einiger Entfernung ducken sich ein paar halb zerfallene Gebäude in den Schatten einer Felswand. Über uns am diesigen, rötlichgelben Himmel zeichnen sich vage
die Umrisse eines gigantischen Flugschiffs ab, das sich langsam entfernt. Der Koloss erinnert an ein riesiges Rad, dessen Nabe sich um eine zigarrenförmige Achse dreht. Die schwebende Megastadt, Salem, die Arche.

«Hör auf zu träumen!», sagst du und knuffst mich in die Seite. Ich reisse meinen Blick los.

Du schlüpfst zurück ins Cockpit, um gleich darauf wieder hervorzukriechen. «Hab nur mein Ortungsgerät vergessen», sagst du und reckst triumphierend das rechteckige Teil empor. Dann tippst du hektisch auf dem Gerät herum. «Wenn die Korodinaten stimmen, muss das Notsignal von dort drüben gesendet worden sein», du deutest auf die Ruinen bei der Felswand.

«Es heisst ‹Koordinaten›», bemerke ich.

«Sag ich doch. Komm, wir haben keine Zeit zu verlieren.»

Zielstrebig machst du dich auf deinen kurzen Beinen auf in Richtung der Gebäude. Ich folge dir.

Aus der Nähe wirken die Backsteinbauten noch verwahrloster. Der Verputz ist über grosse Flächen abgeblättert. Wo der Wind das Wellblech weggerissen hat, ragt die Dachkonstruktion als rostiges Gerippe in den Himmel.

«Hörst du das?», fragst du.

Ein leises Winseln.

«Es muss hier irgendwo sein.»

Wir spähen unter herumliegende Bretterhaufen, linsen durch zerbrochene Fensterscheiben. Hinter einer Hausecke entdeckst du einen Lüftungsschacht.

«Hier ist es!», rufst du.

Tatsächlich. Ein klägliches Wimmern dringt aus dem Schacht zu uns herauf. Achtlos wirfst du dein Ortungsgerät zu Boden. 

«Hilf mir!», sagst du.

Ich gehe in die Knie. Gemeinsam stemmen wir die Abdeckung hoch und schieben sie zur Seite. Rasch beugst du dich in die Öffnung. Mit einem Jauchzer ziehst du einen Hundewelpen aus dem Schacht.

«Hab dich!», rufst du und drückst das Tier glücklich an die Brust. «Haben sie dich zurückgelassen, du armes Tierchen? Wie gut, dass du uns gerufen hast!»

«Das Hündchen hat das Notsignal gesendet?», frage ich. 

«Es ist eben ein besonders kluges Hündchen», konterst du. Mach das jetzt nicht kaputt, sagt dein Blick.

Du öffnest den Reissverschluss deines Overalls und steckst das Tier sorgfältig hinein, so dass nur noch der Kopf herausschaut. «Jetzt aber Beeilung! Das Zeitfenster schliesst sich gleich.»

«Du hast recht. Wir müssen zurück. Gib mir deine Hand.»

Als wir aus dem Windschatten der Gebäude treten, reisst uns der Wind beinahe von den Füssen. Er weht stärker denn je. Als wolle er alles mit sich reissen. 

Die eine Hand hältst du schützend über das Köpfchen des Hundewelpen, mit der anderen klammerst du dich an meinen Arm. Stolpernd und keuchend kämpfen wir uns zurück zur Zeitmaschine. Wir kriechen in die Kapsel, drücken uns in unsere Sitze und legen die Sicherheitsgurte an. Bevor sich die Luke schliesst, werfe ich noch einmal einen Blick in den Himmel. Die schwebende Stadt ist kaum noch zu erkennen.

Mit ein paar geübten Griffen leiten wir die Rückkehr ein.

Der Flug scheint mir kürzer und wesentlich weniger holprig als auf der Hinreise.

In der Gegenwart angekommen, bleiben wir einen Moment lang ganz still sitzen. Alle Kontrolllichter sind erloschen. Es ist finster in unserer Kapsel. Ein feiner Lichtstrahl dringt durch den Türspalt.  Ich kann dich nur als Schemen neben mir ausmachen.

Von ausserhalb sind Schritte zu hören. 

«Wo seid ihr denn?», fragt eine vertraute Stimme.

Du unterdrückst ein Kichern und legst verschwörerisch einen Finger auf deine Lippen.

«Hallo?», fragt die Stimme erneut.

«Hier sind wir!», rufst du, stösst die Tür zu unserer Kabine auf und kletterst nach draussen. Ich hinterher.

«Was macht ihr denn im Kleiderschrank», fragt deine Mamma. Die Hände in die Hüften gestemmt, steht sie inmitten der Unordnung deines Kinderzimmers.

«Wir sind Zeitreisende!»

«Na, das erklärt einiges. Hat jemand von euch mein Schneidebrett gesehen? Ich brauche das zum Kochen.» Sie blickt sich forschend um.

«Ah, da ist es ja!», ruft sie, als sie das Gesuchte entdeckt. Es liegt neben deinem Hocker, dessen Sitzfläche gleichzeitig Deckel für einen kleinen Stauraum ist. Bis vor wenigen Augenblicken war das noch ein Lüftungsschacht. 

Sie bückt sich und hebt das Brettchen hoch. «Was macht das denn in deinem Zimmer am Boden?», fragt sie gespielt empört.

«Das ist mein Ortungsgerät. Wir mussten doch das Hündchen retten», berichtest du und streckst deiner Mamma stolz dein Stofftier entgegen.

«Ach, schon wieder? Wohin musstet ihr denn diesmal?» 

«2222!»

«Ihr seid in die Vergangenheit gereist?»

«Ja, zum Tag der grossen Evakurierung!»

«So weit? Du bist ja eine richtige Zeitreise-Heldin», schmunzelt sie, drückt dich kurz an sich und küsst dich auf den Scheitel.

«Ja! Zeitreiseheldin!», rufst du und reckst das Hündchen hoch über deinen Kopf. Dann saust du wie der Wind aus dem Zimmer und verschwindest in Richtung Küche. 

«Bin ich auch dein Zeitreiseheld?», frage ich deine Mamma. Anstelle einer Antwort streckt sie lächelnd die freie Hand nach mir aus und hilft mir auf die Beine.

Ich lege meinen Arm um ihre Schulter. Gemeinsam stehen wir ans grosse, ovale Fenster und blicken nach draussen. Vor uns breiten sich die unzähligen Lichter von Salem aus, der Arche, der schwebenden Stadt.

In der Ferne erahnen wir die gegenüberliegende Seite des riesigen Rades, das sich behäbig und unablässig um seine Achse dreht, während das Schiff auf seiner tausend Jahre währenden Reise durch den Weltraum fährt, unterwegs zu einer neuen Heimat.

Alles wird gut.

Irgendwann.

23.11.2023 :: Peter Heiniger