Die letzte Dürsrütitanne wurde gefällt – und niemand weiss, wer es war

Die letzte Dürsrütitanne wurde gefällt – und niemand weiss, wer es war
Sie war die letzte der denkmalgeschützten Tannen im Dürsrütiwald. / Bild: Jakob Hofstetter (jhk)
Langnau: Plötzlich lag sie am Boden, die letzte ganz grosse Dürsrütitanne. Keiner hat den Fällakt bemerkt, niemand weiss, wer dahinter steckt. Klar ist mittlerweile: Es war illegal.

Seit letzter Woche kursiert das Gerücht, die letzte ganz grosse Dürsrütitanne sei bei einer Nacht- und Nebelaktion gefällt worden. Mehr dazu will niemand wissen. Keiner wills gesehen oder gehört haben. Dieses Waldstück gehört dem Kanton Bern. Wars der Staatsforstbetrieb selbst? War es ein Nachtbubenstreich? Was war die Motivation der Fällung? Diese Fragen beschäftigten auch die paar Leute, die am Sonntagnachmittag «die Tanne noch einmal sehen wollten», wie es eine Frau aus der Gegend formulierte. 

Zur Täterschaft: Der Staatsforstbetrieb steckt nicht dahinter,  wie dieser auf Anfrage schriftlich mitteilt. Auch dort weiss man nicht, wer die Weisstanne gefällt hat. Der zuständige Förster sei am Montag, 25. August, darüber informiert worden.

Die letzte so grosse Tanne

Nein, dieser Baum  hätte nicht gefällt werden dürfen. Mit einem Durchmesser von rund 160 Zentimeter (Brusthöhe), einer ursprünglichen Länge von mehr als 50 Meter und etwa 30 Kubikmeter Holz figuriert er als die letzte wirklich grosse Tanne im ersten  erstellten Inventar der Dürsrütitannen. Dies entspricht in etwa der Grösse jener Tanne, deren unterster Stamm vor dem «Chüechlihus» ausgestellt ist. Einen ähnlich grossen Baum gibt es im Dürsrütiwald laut Staatsforstbetrieb nicht mehr.  Sein genaues Alter gilt als unbekannt. Weil einige der Weisstannen in den ersten Jahren oder Jahrzehnten nur ganz langsam wachsen würden, sei es schwierig bis unmöglich, das Alter aufgrund der Jahrringe genau zu ermitteln, sagen Fachleute.  Viele schätzen den stattlichen Baum auf ungefähr 300-jährig. 

Für den Staatforstbetrieb ist das Fällen der Tanne auch aus einem anderen Grund inakzeptabel: Die Tanne war Teil einer sogenannten Alt- und Totholzinsel und durfte daher forstwirtschaftlich nicht genutzt werden. 

Dürr, aber nicht gefährlich

Bereits bei Lothar im Jahr 1999 brach der obere Teil der Tanne ab. So, wie sie jetzt am Boden liegt, misst sie noch gut 40 Meter. Seit einigen Jahren sei sie dürr, informiert der Staatsforstbetrieb. War es gefährlich, unter dieser Tanne durchzuwandern? Hatten sich die ungebetenen Holzfäller vielleicht um die Sicherheit der Wanderer gesorgt und griffen deshalb illegal zur Säge? «Bei Bäumen im Wald können jederzeit Äste abbrechen oder ganze Bäume können umfallen, der besagte Baum hat keine besondere Gefahr dargestellt», so die Antwort des Staats­forstbetriebs. Dieser bleibt dabei: «Die Tanne hätte nicht gefällt werden sollen.» Deshalb habe er als Grundeigentümervertretung eine Anzeige gegen Unbekannt eingereicht. Mehr ist dazu nicht zu erfahren. «Bedenken Sie, dass es sich um ein laufendes Verfahren handelt.»

Immerhin gut für die Biodiversität

Das Rätseln um die Täterschaft kann also weitergehen. Ein Nachtbubenstreich könne es nicht gewesen sein, sagen Kenner. Die Tanne wurde fachmännisch gefällt. Die Täterschaft musste über eine grosse Motorsäge verfügen und über weiteres geeignetes Werkzeug. 

Ein kleiner Trost bleibt den «Trauern­den» um die letzte grosse Dürsrütitanne als Wahrzeichen: «Alles Holz bleibt im Wald. Die Tanne leistet als liegendes Totholz einen wichtigen Beitrag zur Biodiversität», teilt der Staatsforstbetrieb mit. 

Reservat für die mächtigen Tannen

In einem Flyer aus dem Jahr 2013 der damaligen Waldabteilung 4 wird die Geschichte der Dürsrütitannen erzählt. Hier ein Auszug: «Der Dürsrütiwald auf der Egg zwischen dem Oberfrittenbach und dem Hochfeld, in gut 900 Meter über Meer, trotzte bis ins 21. Jahrhundert nicht nur Stürmen, Schnee, Hagel und Borkenkäfer, sondern auch allen Versuchungen, welche schnelles Geld verhiessen. Auf Dürsrüti entwickelten sich starkholzreiche Plenterstrukturen, welche bald weit über das Emmental hinaus ihresgleichen suchten. Die mächtigen Weisstannen mit mehr als 30 Kubikmeter Holzvolumen und Baumhöhen von weit über 50 Metern waren der berechtigte Stolz ihrer ­Besitzer und der ganzen Region.

1911 verstarb der damalige Besitzer des Dürsrütihofes, alt Grossrat Andreas Arm, ohne direkte Nachkommen zu hinterlassen. Dem gegen 20 Hektaren grossen, weit über die Kantonsgrenzen hinaus bekannten Plenterwald drohten Verkauf und Zerstückelung. 1914 konnte der Kanton Bern mit Unterstützung vom Bund und der Gemeinde Langnau 3,6 Hektaren kaufen. Seither wird dieser Teil des Dürsrütiwaldes vom örtlichen Forstdienst betreut und von der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft wissenschaftlich begleitet.

1947 wurde das ‹Reservat Dürsrüti› vom Regierungsrat des Kantons Bern zum Naturschutzgebiet und die Riesentannen als Naturdenkmal unter Schutz gestellt. Jedes Jahr werden die Baumriesen von unzähligen Waldfreunden aus nah und fern besucht.»

14.09.2023 :: Jakob Hofstetter (jhk)