Brauchts die Leinenpflicht, um Wildtiere besser zu schützen?

Brauchts die Leinenpflicht,  um Wildtiere besser zu schützen?
Die Meinungen, ob ein Hund im Wald an die Leine gehört oder nicht, gehen auseinander. / Bild: Shutterstock
Kanton Bern: Müssen Hunde künftig von April bis Ende Juli im Wald an die Leine? Eine Motion verlangt dies, «Hündeler»-Vereinigungen sammeln Unterschriften dagegen.

«Jedes Jahr werden immer wieder frisch geborene Wildtiere, besonders Kitze und Jungvögel von Bodenbrütern, von streunenden Hunden stark verwundet, oft zu Tode gebissen», schreiben elf Grossräte von links bis rechts in einer Motion. Ausserdem gelte eine Leinenpflicht bereits in den Nachbarkantonen Freiburg, Jura, Neuenburg, Solothurn und Luzern (siehe Kasten). Oft kämen Leute aus diesen Gebieten in den Kanton Bern, um ihre Hunde auszuführen, steht weiter in der Motion. Aus diesen Gründen fordern die Politikerinnen, dass Hunde vom 15. April bis 31. Juli in den Wäldern und bis 50 Meter zum Waldrand an der Leine zu führen sind.

Der Regierungsrat unterstützt «die Stossrichtung der Motion» und hat sie als Postulat angenommen. Der negative Einfluss freilaufender Hunde auf die Fauna sei hinlänglich bekannt und erwiesen. Eine örtliche und zeitliche Beschränkung – und zwar bereits ab dem 1. April – stelle «die Verhältnismässigkeit der Massnahme» sicher.

Das Recht auf freie Bewegung

Eine Leinenpflicht sei alles andere als verhältnismässig, findet Jelia Jeremias. Sie führt in Schlosswil eine Hundeschule und Tierpension und ist im Vorstand der Interessengemeinschaft Kynologischer Organisationen im Kanton Bern (IGKO). «Mit der Leinenpflicht bestraft man alle gut erzogenen Hunde und die Leute, die ihren Hund im Griff haben.» Und das sei die grosse Mehrheit. Ausserdem stehe in der eidgenössischen Tierschutzverordnung, dass Hunde das Recht hätten auf freie Bewegung ohne Leine. Dem Widerspreche die Leinenpflicht. Jelia Jeremias betont, dass jagende und im Wald herumrennende Hunde nicht zu tolerieren seien. «Ein Hund muss auf dem Weg bleiben. Wenn er nicht gehorcht, gehört er angeleint, und zwar das ganze Jahr.» Wichtiger als Verbote sei es deshalb, weiter in die Ausbildung zu investieren.   

Die IGKO sammelt nun Unterschriften gegen eine Leinenpflicht. Die Bestimmungen in der Verordnung über Wildtierschutz seien beizubehalten. Diese untersagen «das unbeaufsichtigte Laufenlassen von Hunden». Hunde dürften abseits von Häusern, im Feld oder im Wald nur dann freigelassen werden, «wenn sie von der Begleitperson jederzeit wirksam unter Kontrolle gehalten werden können». Zusammen mit der Aufklärungs- und Ausbildungstätigkeit von Vereinen und Hundeschulen genüge dies, so die IGKO. Dies beweise auch die kantonale Jagdstatistik. So würden immer weniger Rehe durch Hunde gerissen. 2008 seien es 154 gewesen, 2021 noch 33 – ein Prozent der 3235 Fälle. «In den Nachbarkantonen mit Leinenpflicht sind die Fallzahlen ebenfalls rückläufig, aber nicht stär­ker als im Kanton Bern.»

Wildtiere vor Störungen schützen

Das bestehende Gesetz genüge nicht, findet dagegen Lorenz Heer, Geschäftsleiter von Pro Natura Bern. Er sehe in Jagdbanngebieten und Wäldern immer wieder Hunde abseits der Wege, welche die Halterinnen und Halter nicht unter Kontrolle hätten. Solche Hunde bedeuteten für Wildtiere eine grosse Störung. Der Kanton sei gesetzlich verpflichtet, für einen ausreichenden Schutz der wildlebenden Säugetiere und Vögel vor Störungen zu sorgen. Heer findet, dass eine zeitlich begrenzte Leinenpflicht der Tierschutzverordnung nicht widerspricht. Der Hund werde ja nicht dauernd in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. «Ausserdem gibt es viele Orte, wo sich Hunde ganzjährig frei bewegen dürfen.»        

Die Leinenpflicht wird in der Herbstsession im Grossen Rat behandelt.

Kanton Luzern: «Leinenpflicht funktioniert gut»

Seit 2014 kennt der Kanton Luzern vom 1. April bis 31. Juli eine Leinenpflicht in und um Wälder (50 Meter). Als Wald gilt, was auf dem Geoportal als solcher ausgeschieden ist. «Das funktioniert recht gut», sagt Daniel Schmid, kantonaler Wildhüter. Zwei-, dreimal pro Jahr würden sie gezielt Kontrollen durchführen. Manchmal gebe es auch Hinweise aus der Bevölkerung. «Häufig von Leuten, die sich selber an die Regel halten.» Generell sei das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Wildtiere heute grösser.

Zum Argument der Gegner, dass auch ohne Leinenpflicht immer weniger Rehe von Hunden gerissen würden, hat Schmid Vorbehalte. Die offiziellen Zahlen seien mit Vorsicht zu geniessen. Werde ein Rehkitz im hohen Gras von einem Hund zerbissen, merke das meist niemand. Dasselbe gelte für Hasen und am Boden brütende Vögel. Bei der Leinenpflicht gehe es aber um mehr als um Risse. «Hauptziel ist es, Wildtiere nicht zu stören, wenn sie ihre Eier ausbrüten oder Junge aufziehen.» Und was ist mit weiteren Störfaktoren wie Biker und Wanderer? Der zunehmende Freizeitbetrieb im Wald sei tatsächlich ein Problem, betont der Wildhüter. Vor allem abseits der Wege. So stresse ein Biker, der auf dem Weg fahre, ein Wildtier viel weniger als ein Hund, der im ganzen Wald frei herumlaufe.

27.07.2023 :: Silvia Wullschläger (sws)