Ein Eggiwiler wird gross in Kanada

Ein Eggiwiler wird gross in Kanada
Der Eggiwiler Karl Stettler wurde in Übersee zu einem erfolgreichen Geschäftsmann. (Bilder: Town of Stettler Museum) / Bild: zvg
Eggiwil: Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zogen tausende Menschen aus der Schweiz nach Amerika und Kanada aus. Einer von ihnen, der in seiner neuen Heimat Spuren hinterlassen hat, ist Karl Stettler aus Eggiwil.

Es gab Zeiten, da war die Schweiz ein Auswandererland. Und die USA und Kanada waren die begehrtesten Ziele für einen Neuanfang von armen – oder wagemutigen – Schweizern. Zwischen 1816 und 1913 zogen mehr als 400´000 Menschen weg aus unserem Land nach Übersee. Viele von ihnen erhielten im Innenland des riesigen nordamerikanischen Kontinents gratis Ackerland. Davon zeugen noch viele Ortsnamen mit Namen von Schweizer Pionieren, welche das Land dort einst urbar machten. 

Stettler ist hierzulande ein häufiger Familienname – und wer bei der gleichnamigen Kleinstadt in der Provinz Alberta Kanada an einen Ursprung im Emmental denkt, vermutet richtig. Namensgeber war Karl Stettler, der drüben zum Carl Stettler wurde. Geboren wurde er am 6. Juni 1861 in Eggiwil, untere Leimen (heute Gerbe), als ältester Sohn des Gerbermeisters Simon Christian Stettler. Sein Vater war nicht nur Gerber, sondern auch noch Grossrat, Gemeindepräsident von Eggiwil, später Pächter des «Sternen» in Worb und anschliessend des «Bären» in Oberdiessbach.

Karl erlernte den Gerberberuf bei seinem Vater und wuchs zu einem kraftstrotzenden jungen Mann heran, der als Turner-Schwinger zu seinen Zeiten als einer der «Bösesten» im Emmental galt. Als 25-jähriger entschloss er sich aber, sein Glück in der Neuen Welt zu suchen.


Er verkaufte Soda, Bier und Eis

Viel «Gfröits», aber eben auch viel ­«Ugfröits» sollte ihn ab da in Übersee begleiten, sein ganzes abenteuerliches Leben lang. In ­Amerika angekommen, reiste er zuerst nach Bernstadt in Kentucky, wo etliche Berner Auswanderer eine Kolonie gegründet hatten. Lange blieb er da aber nicht: Er zog weiter zu Glarner Landsleuten in New Glarus in Wisconsin und dann noch etwas weiter südlich, nach Monticello, wo ebenfalls viele Deutschsprachige ihren Wohnsitz gefunden hatten. Noch vor der Jahrhundertwende begann Stettler mit dem Verkauf von Soda, Bier und Eis in Marysville, Kansas, bevor er drei Jahre später nach Weatherford Oklahoma zog, um einen Biergrosshandel für die Anheuser Busch-Brauerei zu betreiben. 

1895 hatte er die aus Deutschland stammende, 43-jährige Witwe Dorothea Raemer geheiratet, die ihm auch eine grosse Kinderschar mit ins Haus brachte.


Ankunft und Neubeginn in Kanada

Der grosse Traum von Carl Stettler war, eine neue Schweizer Kolonie nach seinen Vorstellungen in noch unbesiedeltem Prärieland erstehen zu lassen. Darum reiste er mit seinem Freund Theo Bärtschi 1902 nach Winnipeg in Kanada, um dort mit Vertretern der Canadian Pacific Railroad über die Gründung einer solchen Kolonie an deren im Bau befindlichen Bahnlinie zu verhandeln. Sie wurden an H. Harry Honens verwiesen, an den Manager für CPR-Grundstücksverkäufe in Calgary. Die Eisenbahnunternehmung erwies sich als sehr interessiert, im Niemandsland entlang der neuen Bahnstrecke quer durch den Kontinent in regelmässigen Abständen Dörfer und kleine Städte entstehen zu lassen.

Vor genau 120 Jahren konnte Carl Stettler – von den USA herkommend – eine Gruppe Schweizer Siedler über die Grenze nach Kanada führen. Hier fanden sie in der Provinz Alberta rund 220 Kilometer nordöstlich von Calgary ihre neue Heimat. Sie begannen unverzüglich mit Rodungsarbeiten und dem Pflügen von Ackerland für den Getreideanbau. 


Bescheiden angefangen

Richtige Wohnhäuser hatten sie im ersten Jahr noch keine: Es wurde ein rechteckiges Loch im Grasland abgetieft, die Rasenziegel und das Erdreich wurden auf den Rändern aufgeschichtet - und eine mitgebrachte Plane bildete das Notdach. Erst im folgenden Jahr konnten diese provisorischen Erdhäuser («Sod Houses») aufgegeben – und Blockbauten oder bretterverschalte Ständerbauten bezogen werden.

Das Holzhaus von Stettler stand im Zen­trum der Schweizer Kolonie. Hier wurde 1905 auch das Postamt installiert und mit dem romantischen Namen «Blumenau» versehen. Carl Stettler wurde zum erstem Postmeister ernannt. 1905 erreichte schliesslich auch das Eisenbahn-Trassee der Canadian Pacific Railway die Gegend. Zwar ging die definitive Linienführung nun ein paar Kilometer an Stettlers Neugründung vorbei. Doch der findige Eggiwiler liess seine Holzbauten, die nicht in den Prärieboden verankert waren, von Ochsen hinüber zur neuen Bahnstation schleppen. Schnell verlagerte sich das ganze Zentrum der Siedlung an die Eisenbahnlinie. Ab 1906 hiess der Ort «Stettler». Der initiative Namensgeber liess für Reisende eine Unterkunft erstellen –sein Hotel National. Dieses wurde zwar schon 1908 ein Raub der Flammen. Aber Carl Stettler liess es unverzagt wieder aufbauen – und konnte es sogar verkaufen noch bevor es ganz fertiggestellt war. 


Prärie-Gefahren und Risiken

Stettlers Biograf Alfred Erichsen, der dem Pionier aus Eggiwil sein Buch «Der Mann und seine Stadt» gewidmet hat, berichtet darin: «Präriebrände waren das grösste Übel in den Jahren des ‹Homesteading›. Gemäss seinen Aufzeichnungen wurde das Dorf Stettler immer wieder von solchen heimgesucht.» Die Steppengrasbrände kamen gemäss Erichsens Beschreibungen jeweils im Herbst nicht selten als kilometerbreite Feuerwalzen auf die Holzhäuser und Scheunen zu, setzten alles, was da stand, in Brand.

Stettler investierte seine Gewinne aus der Farm und aus seinen Hotelbetrieben in eine neu entdeckte Kohlemine. 1911 gründete er mit zwei Kompagnons die «Castor Coal Company» und war deren Präsident. Der Abbau war vorerst überaus lohnend: Sechs bis zehn Waggonladungen Kohle konnten jeden Tag aus dieser Mine herausgeholt und auf die Bahn verladen werden. Doch dann stürzte die Grube komplett ein und wurde wertlos. Stettler verkaufte seinen Anteil an den Hotels, doch der Wert der Geschäfte war seit Inkrafttreten der Prohibition im Jahr 1916 stark zurückgegangen. 

Nach seiner Pensionierung zog er in ein selbst erbautes Haus in der Bucht von ­Rochon Sands am Buffalo Lake, um ein einfaches und beschauliches Leben zu führen. Doch in der Kälte des Winters 1919 zog er sich schwerste Erfrierungen an den Beinen zu. Gewebe starb ab und wurde schwarz. Er reiste in die Vereinigten Staaten, um sich in Memphis Tennessee ein Bein amputieren zu lassen. Unbemerkt blieb, dass er Diabetiker war. Er verstarb – 59-jährig – wohl aus diesem Grund an den Folgen der Operation noch in Memphis. Carls sterbliche Überreste wurden – auf Initiative seines Geschäftspartners Fred Colley – nach Stettler überführt. Die Abdankung fand am 11. Februar 1920 in der Methodistenkirche des Ortes statt. Der Stadtrat erklärte diesen Tag zum Trauertag und alle Geschäfte blieben geschlossen. Der Bürgermeister und die Stadträte fungierten als Sargträger, trugen ihren Stadtgründer auf den Friedhof.


Pionier, Idealist – und Realist

Der Biograf Alfred Erichsen weist in seinem Buch darauf hin, dass der grosse Traum von Carl Stettler, eine vorbildliche Schweizer Kolonie in Amerika zu gründen, eigentlich nie ganz Realität geworden ist. Volkszählungsunterlagen von heute zeigen, dass nur gerade 30 Familien in der Gegend Schweizer Wurzeln haben.

Eine prosperierende Kleinstadt entlang einer amerika-typischen, breiten Main Street mit knapp 6000 Einwohnern ist Stettler jedoch alleweil. Und es hat einen überaus beliebten und attraktiven Bahnhof –ideal für einen Zwischenhalt bei allen Familienausflügen mit der «Alberta Prarie Railway»-Wild-West-Eisenbahn.


Karl Horat ist freier Journalist. Bei den Arbeiten zu seinem soeben in der Edition Linth erschienenen Buch ‹Glarner
Stüggli›, ist er auf die Geschichte von Carl Stettler aus Eggiwil gestossen – auf den Ementaler-«Durchreisenden» in New
Glarus USA, der später in Kanada reüssierte. 
 

06.07.2023 :: Karl Horat (khn)