Error compiling Razor Template (contact the administrator for more details)

Margeriten und Traubensaft

Pfingsten – und wieder trifft es mich mit dem Gottesdienst in der Waldaukapelle. Es ist wie verhext. Schon das vierte Jahr in Folge – und ich ringe immer noch um Bedeutung, Worte, Erklärungen und Lebensbezug was dieses kirchliche Fest angeht. Schon bei der Vorbereitung beschleicht mich dieses Gefühl, das ich immer habe, wenn ich Pfingstgottesdienste schreibe: Was um alles in der Welt hat es mit diesem Geist Gottes auf sich? Wäre doch Weihnachten, Karfreitag oder wenigstens ­Ostern. Das sind zumindest handfeste Dinge – da gehts um Geburt, Mord und Totschlag, Grabesmoder und neues Leben. Aber Pfingsten? Noch dazu in einer psychiatrischen Klinik?

Mit zwiespältigem Gefühl fahre ich auf den Parkplatz der Kapelle und bin froh, dass ich mich an die handfesten Vorbereitungen zum Gottesdienst halten kann. Ich öffne die Holztüre der Kapelle, entzünde die Osterkerze und decke den Tisch im Chor mit dem weissen Tischtuch, Silberkelchen, Brot und Traubensaft. Der muslimische Patient hatte auf der Holzbank draussen bereits auf mich gewartet und lacht stolz und zufrieden, als ich ihn die Holztreppe hochschicke, um am Seil die Glocke zu läuten. Der Abendmahlstisch ist gedeckt, der Traubensaft in den grossen Silberkelch gefüllt und der Organist beginnt mit fulminanten – oder von mir aus pfingstlichen – Klängen. Doch als ich nach dem Eingangsspiel mit feierlicher Miene zum Tisch laufe, um den Gottesdienst mit den gewohnten Worten zu beginnen, sehe ich ihn plötzlich: den riesigen Margeritenstrauss im Silberkelch. Wer um alles in der Welt hat diese Blumen in den Traubensaft geschmuggelt? Ich beginne für einen Moment den Heiligen Geist zu verdächtigen und verfluche ihn innerlich, während mein Blick kritisch die Gottesdienstbesucher mustert. Er sitzt in der vordersten Reihe, der Patient muslimischer Herkunft, der schon so oft wegen seiner Krankheit in der Klinik war, und lacht mich fröhlich an. Der Strauss sei für mich, sagt er, und für alle Patienten. Und: Margeriten können auch aus verletzten Seelen wachsen. Ich überlege einen Moment. Dann sammle ich alle um den Tisch und setze inmitten einer fröhlichen Menschenrunde schmunzelnd das Abendmahl ein – mit dem Strauss Margeriten im Kelch.

29.06.2023 :: Patrizia Weigl