«Was geschehen ist, darf sich nie mehr wiederholen»

«Was geschehen ist, darf sich nie mehr wiederholen»
Alfred Ryter erzählt seine traumatischen Kindheitserinnerungen im Dokumentarfilm «verdinger». / Bild: zvg
Kanton Bern: Das «Zeichen der Erinnerung» will an das Unrecht erinnern, das verdingte und weggesperrte Menschen erleiden mussten. Die Aufarbeitung sei nach wie vor nötig.

Schon nur die Wortkombination hat es in sich: fürsorgerische Zwangsmassnahmen. Von Fürsorge haben die in Heimen, psychiatrischen Anstalten oder Gefängnissen weggesperrten Menschen wenig gespürt, von Zwang dagegen schon. Sie wurden bis in die späten 1970er-Jahre Opfer von physischer und psychischer Gewalt, von Missbrauch und Ausbeutung. Dasselbe Schicksal teilten viele Kinder, die fremdplatziert wurden. 

Einer von ihnen ist Alfred Ryter (1940). Weil die Mutter schwer erkrankte, wurde er mit sieben Jahren verdingt. Er erlebte Gewalt, Hunger, Lieblosigkeit, Demütigung und Angst. Im Film «verdinger» erzählt er seine Geschichte, die nur schwer zu ertragen ist. Auch für ihn. Tiefe Depressionen begleiteten ihn durch sein Leben. Heute gehe es ihm besser, dank Therapien und Medikamenten – und seiner Frau Ruth. «Heute kann ich mit meinen schlimmen Erlebnissen aus der Jugendzeit an die Öffentlichkeit treten.» So hat er auch im Betroffenenbeirat des Projekts Berner «Zeichen der Erinnerung» mitgewirkt.


Ein dunkles Kapitel

Der Kanton Bern hat einen grossen Teil dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte geschrieben. Mit «Zeichen der Erinnerung» bestehend aus einer Plakatausstellung, aus Erinnerungstafeln, Unterrichtsmaterial und einer Webseite will Bern daran erinnern. Genügt das? «Es kann nie genug sein angesichts des menschlichen Leids», sagt Barbara Studer, Staatsarchivarin des Kantons Bern. «Eine kaputte Kindheit kann man nicht wiedergutmachen.» Aber man könne, ja, man müsse über das Geschehene sprechen, es aufarbeiten, das fänden auch die meisten Betroffenen. Manche Leute sagten, das sei nicht nötig, damals hätten schliesslich alle hart arbeiten müssen. Das zeige ein fehlendes Verständnis für das, was geschehen sei. «Die Betroffenen mussten nicht nur viel arbeiten, sondern ihnen wurde teils massive Gewalt angetan und vor allem fehlte ihnen die Nestwärme.» Das habe sie für das ganze Leben geprägt. Studer befasst sich seit 2013 mit dem Thema. Die Staatsarchive sind vom Bund verpflichtet, die Akten von Betroffenen, die dies wünschen, zusammenzustellen und ihnen gratis abzugeben. Besonders erschüttert habe sie, wie weit in die Gegenwart die Fälle reichten. «Wäre ich in den 1970er-Jahren nicht in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen, hätte es auch mich treffen können.»


Die Kinder sollen es wissen

Barbara Studer hofft, dass sich viele Menschen in Rahmen von «Zeichen der Erinnerung» berühren lassen. Um möglichst ein breites Publikum zu erreichen, habe der Kanton die Gemeinden aufgefordert, mitzumachen (siehe Artikel auf Seite 2). Als wichtigen, wenn nicht gar wichtigsten Eckpfeiler des Projekts bezeichnet sie das Unterrichtsmaterial für Schulen oder die Kirchliche Unterweisung. Ebenso wertvoll sei es, wenn Betroffene dort ihre Geschichte erzählten und Fragen beantworteten. «Es freut uns, dass diese Angebote rege in Anspruch genommen werden», sagt Barbara Studer. «Gerade haben mir zwei Redner gesagt, wie aufmerksam die Schülerinnen und Schüler zugehört hätten. Und dass ihnen anschliessend viele Briefe geschickt worden seien.» Längerfristig müsse dieses Stück Schweizer Geschichte in die Schulbüchern Einzug halten.

 

Darüber reden     

Alfred Ryter ist einer dieser engagierten Redner. «Momentan bin ich mehrmals pro Woche unterwegs», sagt der 83-Jährige. Er möchte auch andere Betroffene ermutigen, ihre Geschichte in der Öffentlichkeit zu erzählen, beispielsweise während der Plakatausstellung in den Gemeinden. «Das bewirkt mehr, als wenn die Tafeln irgendwo isoliert herumstehen.» Die Betroffenen könnten so auch anderen eine Stimme geben. Denen, die nicht selber sprechen können oder bereits gestorben sind. Wie zwei seiner Brüder, die Suizid begannen haben. Darüber reden, das sei wichtig, denn «was geschehen ist, darf nie vergessen gehen und sich nie mehr wiederholen.»

Bisher 10’000 Solidaritätsbeiträge

Bis 1981 waren in der Schweiz zehntausende Kinder und Erwachsene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffen. 2010 und 2013 entschuldigte sich der Bundesrat bei den Opfern. 2017 trat das Bundesgesetz über die Aufarbeitung in Kraft. Das Gesetz sieht die Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrages von 25´000 Franken pro betroffene Person vor. Bisher wurden Beiträge an 10´000 Personen ausgerichtet, 2000 allein im Kanton Bern. Betroffene haben zeitlebens die Möglichkeit, ein Gesuch beim Bundesamt für Justiz einzureichen. Das Gesetz beinhaltet auch die Beratung und Unterstützung von Betroffenen durch kantonale Anlaufstellen und Archive, weiter Selbsthilfeprojekte und die wissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik. Von den Kantonen forderte der Bundesrat, dass sie «Zeichen der Erinnerung» setzen.

01.06.2023 :: Silvia Wullschläger (sws)