Wenn wenige über vieles entscheiden

Wenn wenige über vieles entscheiden
Emmental/Entlebuch: Meistenorts finden noch Gemeindeversammlungen statt. Doch die Beteiligung lässt zu wünschen übrig: Je grösser die Gemeinde, desto geringer das Interesse.

Direkter geht direkte Demokratie nicht. An den Gemeindeversammlungen wird das Budget beschlossen, die Steueranlage erhöht, über den Schulhausneubau entschieden, der Gemeinderat gewählt. Knapp 80 Prozent der Schweizer Gemeinden kennen eine Gemeindeversammlung. Dieser Anteil hat sich in den letzten 25 Jahren kaum verändert. Dies die Erkenntnisse einer Studie des Politologen Andreas Ladner aus dem Jahr 2016. Demnach ist die Beteiligung an den Gemeindeversammlungen stets zurückgegangen. Gemessen an den Stimmberechtigten belief sich die Beteiligung zum Zeitpunkt der Studie auf etwas mehr als 20 Prozent in den kleinsten und auf zwei bis drei Prozent in den grössten Gemeinden.


Häutligen an der Spitze 

Wie präsentiert sich die Situation im Verteilgebiet der «Wochen-Zeitung»? Wir haben Daten von Gemeinden analysiert, deren Protokolle der mindestens vier letzten Gemeindeversammlungen online ersichtlich sind. Die Datenanalyse kommt, mindestens zum Teil, zum gleichen Schluss wie Politologe Ladner. Häutligen, eine der kleinsten erfassten Gemeinden, weist die mit Abstand höchste Beteiligung auf. Gut ein Fünftel der rund 200 Stimmberechtigten nimmt im Schnitt an den Versammlungen teil. Die Gemeinde liess sich auch nicht von Corona abschrecken: Drei Versammlungen fanden ganz unkompliziert im Freien statt.

«Ja», sagt Häutligens Gemeindepräsident Christoph Siegenthaler, «seit über zehn Jahren ist die Beteiligung zu meiner Freude immer sehr hoch.» Es gebe kein eigentliches Erfolgsrezept. Aber es sei halt schon so: Man kenne sich, wolle wissen, was laufe im Dorf. Wichtig sei auch, offen zu kommunizieren – das passiere in Häutligen meist noch von Mund zu Mund. «Am meisten freut mich, dass auch die Jungen an die Versammlungen kommen», so Siegenthaler.


Rüegsau am anderen Ende

Mit Rüegsau figuriert eine der grös­seren Emmentaler Gemeinden am Ende der Tabelle. Von den gut 2500 Stimmberechtigten bemühten sich durchschnittlich 28 an die Gemeindeversammlung – dies entspricht 1,14 Prozent. Allerdings ist die Datenlage hier noch dünn, werden doch die  Versammlungsprotokolle erst seit 2021 im Internet bereitgestellt.

Für den Rüegsauer Gemeindepräsidenten Andreas Hängärtner ist der tiefe Wert kein Grund zur Beunruhigung. «Dank unserer aktiven Informationspolitik im Vorfeld von Versammlungen können sich die Stimmberechtigten vertieft über die Geschäfte informieren», erklärt er. Eine Teilnahme erachteten möglicherweise deshalb viele für nicht notwendig. «Meist scheinen die Leute mit unseren Vorschlägen einverstanden zu sein.» Allerdings stelle er ein schwindendes Interesse der Bevölkerung an politischen Fragen fest. Das ändere sich vielfach erst dann, wenn die Leute von einem Geschäft direkt betroffen seien.

Die Gemeindeversammlung biete für die Stimmberechtigten die Gelegenheit, sich selber in die Geschäfte einzubringen, mit direktem Kontakt zum Gemeinderat. Ein klares Plus gegenüber der Urnenabstimmung. Deshalb sagt Andreas Hängärtner: «Selbstverständlich wünscht sich der Gemeinderat jeweils eine möglichst grosse Beteiligung an den Versammlungen.»


Wahlen und Schulen als Renner

Natürlich gibt es in den einzelnen Gemeinden statistische Ausreisser. Es erstaunt kaum, dass Versammlungen, an welchen Gemeinderatsmitglieder gewählt werden, eine höhere Beteiligung aufweisen. Auch wenn Fragen rund um das Schulwesen auf der Traktandenliste stehen, steigt das Interesse an einer Teilnahme. So waren in Trub am 6. Dezember 2019 dreimal mehr Stimmberechtige anwesend als üblich; traktandiert waren damals unter anderem ein neues Schulmodell, die Gründung des Schulverbands sowie der Neubau der Turnhalle.

In den Gemeinden des Entlebuchs ist die Datenlage ähnlich wie im Emmental. Während Flühli keine Protokolle aufgeschaltet hat, liegen aus Schüpfheim lediglich absolute Zahlen vor. Auch die Gemeinde Escholzmatt-Marbach publiziert keine standardisierten Protokolle. Dank der detaillierten Jahresstatistiken dieser Gemeinden lässt sich die prozentuale Stimmbeteiligung gleichwohl berechnen. Ins Auge sticht hier die wahrscheinlich höchste absolute Beteiligung aller Gemeinden: am 29. März 2022 drängten sich sage und schreibe 633 der gut 3300 Stimmberechtigten in die Mehrzweckhalle Ebnet in Escholzmatt. Wen wunderts: Es ging um einen 20-Millionen-Kredit für den umstrittenen Neubau des Schulhauses sowie des Gemeindesaals Pfarrmatte. 


Urne statt Säli?

Angesichts des verbreiteten Desinteresses könnte die Institution Gemeindeversammlung Gefahr laufen, allmählich in der Versenkung zu verschwinden. Die Frage stellt sich: Ist es im Sinn der direkten Demokratie, Gemeindeversammlungen durch ein Parlament zu ersetzen, grössere Geschäfte nur noch an die Urne zu bringen oder sogar sämtliche Entscheide an der Urne zu fällen und die Versammlung ganz abzuschaffen? Viele antworten: Vielleicht sind Gemeindeversammlungen nicht mehr so zeitgemäss, aber ihr Verschwinden würde einen herben Verlust eines wichtigen politischen Kulturguts bedeuten.

So oder so: Auch bei der Frage, ob an der Gemeindeversammlung oder an der Urne abgestimmt werden soll, haben die Stimmberechtigten das letzte Wort.

19.01.2023 :: Daniel Schweizer (sdl)