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Der Rückwärtsfahrer

Gehören Sie auch zu den ­Menschen, die im Zug schlecht rückwärtsfahren können? Meine Mutter konnte es nie. Sie sagt bis heute, dass es ihr schlecht wird, wenn sie die Landschaft von hinten betrachte. Es sei ihr lieber, wenn sie sieht, was auf sie zukommt. 

Deshalb ist mir die Frage beim Zugfahren zur Gewohnheit geworden wie das Ausziehen der Jacke: Möchten Sie lieber hier sitzen, damit Sie vorwärtsfahren können? – So auch kürzlich. Ich hatte mich im vollen Zug in einem Viererabteil eingerichtet. «Zäziwil!», tönt es scherbelnd aus dem Lautsprecher. Eine Mutter mit zwei Kindern im Primarschulalter schaut sich suchend um. «Ist da noch frei?», fragt sie nervös als der Junge und das Mädchen sich bereits zu mir ins Abteil drängen wollen. «Klar. Möchtet ihr beide hier sitzen, damit ihr vorwärtsfahren könnt und es euch nicht schlecht wird? Mir macht es nichts aus rückwärts zu fahren.» Die Antwort erahnend stehe ich auf, um den Platz zu wechseln. «Nein, nein, blieben Sie ruhig sitzen, mein Sohn fährt aus Prinzip immer rückwärts!» Der Junge plumpst zufrieden neben seine Mutter ans Fenster, das Mädchen etwas schüchtern neben mich. Und dann beginnt das Kinderspiel: «I gseh, i gseh, was du nid gsehsch, u das isch rot!» – «Ds Outo! D Lüchtschrift dert!» – «Falsch! O falsch!» Der Junge grinst schelmisch. Erst in Worb SBB beginne ich den kleinen Rückwärtsfahrer zu verstehen: Was er sieht, kann seine Schwester gar nicht erraten. Sie muss dafür jeweils umständlich den Kopf drehen, um die vorbeiziehende Landschaft nochmals genau nach dem zu erratenden Gegenstand absuchen zu können – und dazu ist es meistens zu spät, die Landschaft vorbeigezogen. Zudem hat der Rückwärtsfahrer umgekehrt beim Erraten mehr Zeit, die für ihn noch nicht verschwundene Landschaft zu mustern. – So bleibt er immer der Gewinner. 

«Ostermundigen!» Ich muss aussteigen. Vielleicht werde ich im Advent wieder mehr rückwärtsfahren. Um Zeit zu haben, dem Vorbeigezogenen nochmals nachzuschauen und zu erleben: Es ist nie zu spät für das was kommt! Text: Patrizia Weigl

15.12.2022 ::