So schnell, dass einem die Tränen kommen

So schnell, dass einem die Tränen kommen
Der schnellste Einheimische: Urs Bieri auf seiner Siegesfahrt. / Bild: Stephan Schori (ssr)
Seifenkistenrennen: Die Jubiläumsausgabe (20 Jahre) des Seifenkistenrennens Niederhünigen war eine spektakuläre Angelegenheit – für das Publikum wie für die Pilotinnen und Piloten.

Schon vor dem Start wird das Territorium klar abgesteckt. Einerseits sind da die Verbandsfahrer mit ihren aerodynamischen, glatt polierten und ganz tief gelegten Gefährten. Nebenan stehen die Einheimischen, teils mit hölzernen, von Hand zusammengezimmerten, aber nicht minder spektakulären Kisten. Etwas nervös und angespannt bereiten sich die Piloten auf die erste Herausforderung vor: Die Kisten werden hintereinander vertaut und per Schleppfahrzeug zum Start hochgezogen. Für die selbst gebastelten Kisten ist das so etwas wie die erste Zerreissprobe.

Erleichtert oben angekommen, folgt schon die nächste Herausforderung: Wie sich aus der Kiste schälen, ohne die rundherum aufgereihten  Fahrzeuge zu touchieren, wenn doch die Handbremse fehlt? Doch auch dieses Manöver gelingt mir als Seifenkisten-Anfängerin mit Hilfe der Konkurrenten. Überhaupt ist die Stimmung am Start alles andere als verbissen: Interessiert werden die Fahrzeuge der anderen gemustert und die eine oder andere Anekdote aus der nicht-motorisierten Rennwelt ausgetauscht. Für jene mit den höheren Startnummern reicht es vor der rasanten Fahrt sogar noch für einen Kaffee oder einen von der Pfadi Kuonolf gebackenen Muffin.


Herausfordernde Strecke

Die Verbandsfahrer, die pro Sommer bis zu sieben Rennen in der Schweiz und mehrere in Europa bestreiten, eröffnen in Niederhünigen ihre Rennsaison. «Die Strecke ist ziemlich anspruchsvoll und deshalb für den Saisoneinstieg eine ideale Hauptprobe», sagt ein Westschweizer Pilot. 

So ist es auch verständlich, dass der jüngste einheimische Fahrer, der siebenjährige Dario Haldemann, auf seiner ersten Fahrt vom ehemaligen OK-Präsidenten Miggu alias Michael Weibel per Velo begleitet wird und Anweisungen erhält, wo es zu bremsen gilt und wo die Schikanen auf direktem Weg passiert werden können. 


Der schnellste Einheimische

Andere Lokalmatadoren, die schon zum x-ten Mal am Rennen teilnehmen oder von den täglichen Arbeiten bestens mit der Strecke vertraut sind, kennen die Kurvenscheitelpunkte und die direkte Linie natürlich in- und auswendig. Der Tagesschnellste unter den Einheimischen, Urs Bieri, schafft die knapp einen Kilometer lange Strecke in einer Zeit von 1:06 Minuten. Somit enttrohnt Bieri den amtierenden Einheimischen-Meister Beat Gehri, der fünf Sekunden länger gebraucht hat. Mit Tränen  – von der Geschwindigkeit – in den Augen, kommentiert Urs Bieri im Ziel: «Es macht sehr viel Spass, wenn man oben mit einem kleinen Adrenalinschub startet und dann Vollgas die Strecke runter donnert.»


Unterstützung vom Publikum

Von einer tränentreibenden Geschwindigkeit bleibe ich mit meinem Gefährt weit entfernt. Immerhin schaffe ich es unter zwei Minuten und werde damit nicht Letzte. Aber auch ich habe am Start einen etwas erhöhten Adrenalinspiegel – nicht zuletzt wegen meinen Fahrkünsten, wegen dem Gefälle, den nicht so stabilen Rädern und der Ungewissheit, ob ich mit der Kiste wohl den Elchtest um die Schikanen bestehen würde. Voll konzentriert lasse ich also die Bremsen los und baue auf der ersten Geraden eine gute Grundgeschwindigkeit auf, dann die ersten Schikanen, gerade noch die Kurve gekriegt und rein in die 180-Grad-Kurve vor dem Schützenhaus, quasi das Niederhüniger Pendant zur bekannten Horse-Shoe-Kurve auf der St. Moritzer Bobbahn. Das Publikum, das an der Strecke steht, ist toll. Vor lauter den Bekannten zuwinken gilt es, die Kontrolle über die Kiste nicht zu verlieren. Weiter geht es in die nächste giftige Rechtskurve, welche sogleich auch als Schlüsselstelle der Strecke bezeichnet wird, bevor es nochmals kurz geradeaus und durch die letzte Kurve auf die Zielgerade zugeht. 

Nach drei rasanten Fahrten, einem guten Mittagessen, etwas Fachsimpelei und guter Stimmung ist der Tag auch schon vorbei. Am Schluss bleibt, nebst Bremsstaub, eine unvergessliche Erinnerung.

Bilder der 20. Ausgabe des Seifenkistenrennens befinden sich auf: www.wochen-zeitung.ch/bildergalerie

05.05.2022 :: Olivia Portmann (opk)